"Hänschen Rosenthal war immer ein lustiger Junge"

Walter Frankenstein überlebte die Shoah versteckt in Berlin – so wie sein Freund, der spätere TeBe-Präsident Hans Rosenthal. In einem Zeitzeugengespräch erzählte der 95-Jährige in der vergangenen Woche über die Freundschaft, den Fußball und die Nazis.

Es ist voll im Fanprojekt Berlin am Nachmittag des 10. September, noch bevor der Hauptgast der Veranstaltung überhaupt eintrifft: Walter Frankenstein (im Bild mit TeBe-Stadionsprecher Mr. Bungle) kommt um kurz nach vier und entschuldigt sich mit einem Augenzwinkern, dass er leider auch nichts für den Berliner Verkehr könne. Über 50 Leute sind gekommen, um dem Zeitzeugengespräch zwischen Frankenstein und der Historikerin Juliane Röleke beizuwohnen, darunter Fans von Tennis Borussia und Hertha BSC, Vertreter*innen vom VfB Lübeck und dem FC St. Pauli, von Discover Football sowie zwei Vertreterinnen von Makkabi Deutschland.

Der 95-Jährige Frankenstein lebt in Stockholm, ist aber der Stadt Berlin eng verbunden. Da er als Sohn jüdischer Eltern in immer größerem Ausmaß vom Antisemitismus in seiner Geburtsstadt Flatow in Westpreußen betroffen war, schickte seine Mutter ihn 1936 nach Berlin. Hier lebte sein Onkel Selmar. In der Großstadt, so die Hoffnung, könnte der Junge etwas sicherer und unbeschwerter heranwachsen.

Frankenstein kam im Auberbachschen Waisenhaus in der Schönhauser Allee 162 unter, wurde hier mit dem Berliner Fußball bekannt und Fan von Hertha BSC. Dem Verein ist er bis heute verbunden, weshalb er sich selbst nicht ohne Stolz als den ältesten Fan des Bundesligisten bezeichnet. Was damals unter den Kindern und Jugendlichen aus Frankensteins Umfeld galt, das sollte seiner Ansicht nach auch heute wieder gelten: „Wenn ihr gegen eine andere Mannschaft spielt, bleibt Freunde unten auf dem Rasen! Der Fußball ist kein Krieg, das ist Sport, das ist ein Vergnügen.“

Mit Rosenthal am Radio

Dass es sich dabei um mehr als eine Floskel handelt, macht Walter Frankenstein schnell deutlich, als er auf einen berühmten Lila-Weißen zu sprechen kommt: „Ich hatte einen Freund im Auerbach, Hänschen Rosenthal, der Tennis-Borussia-Fan war. Wenn wir am Radio Fußball gehört haben, dann war die Freundschaft vergessen. Aber man hat sich nicht geschlagen.“ Er sagt dies mit einem Augenzwinkern, und überhaupt gelingt es Frankenstein immer wieder für Lachen unter den Anwesenden zu sorgen.

Als Juliane Röleke ihm erzählt, wer sich alles unter den Zuhörenden befindet und auch Mitglieder von Discover Football erwähnt, einer Organisation zur internationalen Vernetzung und Förderung des Frauenfußballs, entgegnet Walter Frankenstein: „Ich bin ein großer Anhänger des Damenfußballs. Die sind ja auch nicht schlechter als die Männer, sie spielen nur besser.“

Dass Anhänger_innen und Angehörige verschiedener Vereine und Organisationen bei der Veranstaltung im Publikum sitzen hatte sich Walter Frankenstein explizit gewünscht und umso erfreuter ist er, dass es tatsächlich bunt gemischt zugeht: „Die Freude ist groß, dass ihr von verschiedenen Clubs, von verschiedenen Vereinen hier zusammensitzt und mir zuhört. Man muss seinen Gegner auch respektieren. Das ist früher so gewesen und ich hoffe, es kommt wieder.“

Aus dem Waisenhaus in den Untergrund

Die Insel, welche das Auerbachsche Waisenhaus im braunen Berlin gewesen war, fand sich zunehmend größeren Repressionen ausgesetzt und wurde 1942 geschlossen. Hier hatte Walter Frankenstein seine große Liebe Leonie Rosner kennengelernt. Bewegt erzählt er von diesem Tag, wie auch der Entscheidung, gemeinsam unterzutauchen. Bereits bei Beginn der Deportationen im Herbst 1941 beschlossen sie, sich nicht zu fügen. „Nachdem wir einen Cousin von mir besucht hatten, der sich am nächsten Tag zur Deportation melden sollte, um uns von ihm zu verabschieden, sagten wir uns auf dem Heimweg: Nicht mit uns.“

Im Frühjahr 1943, kurz nach ihrer Hochzeit und der Geburt ihres Sohnes Peter-Uri, gingen die beiden in den Untergrund. Hierzu Frankenstein: „Es braucht vier Dinge, um eine solche Zeit zu überleben: Man muss frech sein, keine Angst haben, gute Freunde und viel, viel, viel Glück. Dann kann man es eventuell schaffen.“ Er berichtet von Situationen, in denen er nur um Haaresbreite der Verhaftung entging. Und er berichtet von denjenigen, die ihr Leben riskierten, um ihm und seiner Familie zu helfen. Über die alliierten Luftangriffe sagt er: „Die Bomben fielen und ich war auf der Straße. Das war die große Freiheit! Es war keiner da.“ Frankenstein betont: „Wenn man Angst hat, dann strahlt das Gesicht, die Bewegung das aus. Aber wenn man keine Angst hat, dann strahlt das auch aus.“

Als die beiden Anfang Mai 1945 von der Roten Armee in einem Bunker am Kottbusser Tor befreit wurden, war die Familie bereits zu viert, denn in der Illegalität wurde 1944 Sohn Michael geboren. Über die unmittelbare Zeit nach der Kapitulation der Deutschen berichtet Frankenstein: „Nach Kriegsende spukte der Hitler immer noch im Kopf der Berliner, der Deutschen. Und wir haben das nicht ausgehalten.“ Die junge Familie ging in das im Entstehen begriffene Israel: Zuvor wurde Frankenstein wegen seiner Arbeit in der israelischen Untergrundarmee bei der Organisation von Transportern ins britische Mandatsgebiet Palästina jedoch anderthalb Jahre auf Zypern interniert. In den 50ern zog die Familie nach Stockholm wo Frankenstein nach dem Tod seiner Frau, mit der über 65 Jahre verheiratet war, heute lebt.

Abschied und Wiedersehen

Soviel mehr wäre noch zu erzählen doch nach zwei Stunden neigt sich das Gespräch mit Frankenstein dem Ende entgegen. Als Röleke noch einmal auf den ehemaligen Präsidenten von Tennis Borussia zurückkommt, ist Frankenstein die Bewegtheit in der Stimme anzumerken: „Hänschen Rosenthal war immer ein lustiger Junge, hatte immer Streiche im Kopf“. Dass sein jüngerer Bruder Gert, der ebenfalls im Auerbach untergebracht war, von den Nazis deportiert und ermordet wurde, betont er mehrfach.

Aber er erzählt auch vom Wiedersehen in den 70ern: „Hänschen habe ich durch Zufall wiedergefunden. Wir hatten 30 Jahre lang keinen Kontakt, ich habe nicht gewusst ob er überhaupt überlebt hatte. Er war der Dalli-Dalli-Mann geworden. Ich habe damals bei seinem Buchverlag angerufen und meine Nummer hinterlassen. Zehn Minuten später war Hänschen Rosenthal am Telefon.“ Die beiden blieben bis zu Rosenthals Tod 1987 in freundschaftlichem Kontakt.

Am Ende wendet Walter Frankenstein sich noch einmal bewusst an die Anwesenden, als er auf die aktuellen Entwicklungen und das Erstarken rechter Parteien und die AfD zu sprechen kommt: „Bleibt wachsam und tut das Richtige. Jede Stimme zählt gegen diese Antidemokraten.“ Und noch einen weiteren Wunsch richtet er an das gemischte Publikum an diesem Nachmittag: „Ich wünsche mir, dass ihr als Fans unterschiedlicher Vereine zusammensitzen und ein Bier trinken könnt. Ihr dürft euch auch streiten, aber bleibt euch dabei freundschaftlich verbunden. So wie es bei Hänschen und mir war. Wenn ihr das tun würdet, dann könnte ich zufrieden sterben.“

Der darauffolgende Beifall lässt hoffen, dass seine Worte tatsächlich auf offene Ohren gestoßen sind. Sein Fazit ob der unterschiedlichen Fans und dem breiten Feld der Teilnehmenden: „Danke, ihr habt in mir die Hoffnung geweckt, es wird doch wieder gut.“ Es ist wohl die Kraft, der wache Geist und nicht zuletzt der feine Humor Walter Frankensteins, der viele ebenfalls mit einem hoffnungsvollen Gefühl in den anbrechenden Berliner Abend gehen lässt.

Das sehr lesenswerte Buch „Nicht mit uns“, welches die Geschichte von Walter und Leonie Frankenstein erzählt, wurde vom Journalisten Klaus Hillenbrand in enger Zusammenarbeit mit ihnen geschrieben und ist im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag erschienen.

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