Love-Parade in Wilhelmshaven oder: So kann sogar Absteigen Spaß machen

2. Juni 2001: Regionalligaabstieg SV Wilhelmshaven vs. TeBe 2:2

Von Uli Krug

Abstieg tut immer sauweh, jedes Mal aufs neue; diese Kränkung, diesen moralischen Kater, diese demütigende Machtlosigkeit zu überwinden und gleich zu Beginn der neuen Saison wiederzukommen, ist eines der wesentlichen Kriterien, die den Fan vom Zuschauer unterscheiden.

In der jüngeren Geschichte leidiger Abstiege unserer geliebten Veilchen besitzt einer allerdings eine Sonderstellung, einer, bei dem ich in gewisser Weise sogar froh bin, ihn miterlebt zu haben – denn ohne jenes vorletzte Spiel der Regionalligasaison 2000/2001 würde mir und gut 50 weiteren Mitfahrern das wahrscheinlich kurioseste und herzlichste  Auswärtserlebnis ihres Fanlebens schlicht fehlen.

Es ging auf das erste Juni-Wochenende des Jahres 2001 zu: Zweitligaabsteiger Tennis stand mit 22 Punkten Abstand zum rettenden Ufer auf dem letzten Platz, wies ein rekordverdächtiges Torverhältnis von minus 47 Toren auf, verlor gerade in schmutzigen Turbulenzen seinen Hauptsponsor und hatte bis dato drei Trainer verschlissen – unter anderem einen gewissen Mirko S., der später, Gott weiß warum, bei Schalke und 96 groß rauskommen sollte, und auch den vermeintlich letzten Lichtblick der Fans, den bisherigen Amateurcoach Robert Jaspert. Am Eichkamp roch es nach Tasmania und Blau-Weiß 90, es roch nach Bankrott und Untergang, und man hätte es keinem verdenken können, wenn er, statt am Samstag zum SV Wilhelmshaven zu reisen, sich lieber irgendwo am Rande der Love-Parade den Frust weggedröhnt hätte.

Doch, die wirkliche, echte und einzig wahre Love-Parade fand an diesem denkwürdigen, verregneten Nachmittag im Jadestadion statt: Zwar hatten sich bereits im Hinspiel erste freundschaftliche Bande zwischen den Fanlagern beider Vereine gesponnen, doch was die Ostfriesen dann zu unserem Empfang aufgeboten hatten, übertraf die kühnsten Erwartungen bei weitem: Ein lila gefärbtes Stadionprogramm, Bier- und Bratwurstgutscheine und eine mehr als nur freundliche Aufnahme unter die überdachte Heimtribüne! Dazu ein leidenschaftlich geführtes Spiel einer radikal verjüngten Mannschaft (insgesamt hatte TeBe am Ende dieser Saison 49 verschiedene Spieler eingesetzt) und mit A-Jugend-Trainer Claudio Offenberg ein  ebenso leidenschaftlich agierender Hoffnungsträger auch an der Außenbahn; beides Balsam für die geschundene Borussenseele in einer Spielzeit, in der heimische 1:7-Klatschen durchaus nichts Ungewöhnliches waren. Doch an diesem Tag war eben alles ganz anders: Tennis kämpfte unverdrossen gegen einen 0:2-Rückstand auf des Gegners Platz an, beim Stand vom 1:2 stürmte sogar Kult-Keeper René Renno mit nach vorne und Sekunden vor Schluss gelang Ranisav Jovanovic noch der Ausgleich!

Es war wie eine Explosion: Der ganze Frust, die ganze Angst um den Verein verwandelte sich spätestens in dieser Sekunde in einen überschäumenden, ja nachgerade rasenden Freudenausbruch auf den Rängen; mit freundlicher Genehmigung der Wilhelmshavener Ordner stürmte der ganze lila Pulk auf den Rasen, um mit den Spielern, deren Namen noch gar nicht so recht saßen, zu feiern; zu feiern mit einer Mannschaft, deren Vorgänger schon vor Wochen rechnerisch bereits abgestiegen waren, zu feiern, dass diese Jungs, von denen kaum einer älter als 20 war, eineinhalb Jahre Agonie weggewischt und eine erste zarte Hoffnung auf die Zukunft gepflanzt hatten. Der Beobachter einer Westberliner Boulevard-Zeitung meinte in seinem Spielbericht am Tag danach, gar Hunderte von freudetrunkenen TeBe-Fans auf dem Rasen gezählt zu haben – und gefühlt waren wir plötzlich auch so viele: Wellen, Diver und eine komplette Ehrenrunde mit dem Team, schließlich eine freundliche Busbelagerung, bei der das Bier in Strömen floss, Spieler und Fans sich für die kommende Oberligasaison schon einstimmten und einsangen. Ein Chorus wollte gar nicht mehr verstummen: Auf geht’s, Malchow, bring uns Bier!, begleitete den jungen Verteidiger und uns alle noch in die kommende Saison, die, was die Verbundenheit von Mannschaft und Fans angeht, wohl eine der innigsten der Nachkriegsgeschichte werden sollte. Die Lila Laune fragte sich damals zu Recht: Wir fotografieren die Mannschaft, die Mannschaft fotografiert uns, singen, jubeln – sind wir wirklich abgestiegen?

Dass dennoch niemand den „Geist von Wilhelmshaven“ zum geflügelten Wort erhob, hatte zwei Gründe: Zum einen waren da natürlich die Folgen der rauschenden After-Show-Party, die mit reichlich Gegrilltem und noch reichlicherem Bier von der ersten Fangemeinschaft SV Wilhelmshaven 92 geschmissen wurde und die schließlich in einem gemeinsamen mitternächtlichen Besuch der Disco „Antik“ gipfelte, aus der wohl keiner ohne Gedächtnislücken wieder heraus kam; zum anderen – und das wog natürlich viel schwerer – beendeten die Vereinsoberen die in Wilhelmshaven eingeläutete Ära Offenberg bereits ein Jahr später unter fadenscheinigen Begründungen wieder, die Mannschaft zerfiel und keine der vielen folgenden Oberliga-Spielzeiten sollte noch einmal so werden wie jene erste, die eigentlich in Ostfriesland begonnen hatte.