Eine treue Seele aus Köpenick

erinnert sich an

Beinahe wäre er geworden. Rudolf Deinert steht 1954 auf dem Zettel von Bundestrainer Herberger, und als sich der gesetzte Rechtsverteidiger Retter verletzt, wäre Rulle, wie sie ihn nennen, am Zug. Aber Herberger entscheidet sich gegen ihn und lässt stattdessen einen Linksverteidiger auflaufen. Einen Berliner Spieler zu setzen, gar einen, der wie Deinert im Osten der Stadt wohnt, dieses  Risiko ist dem Seppl zu hoch.* Denn Anreisen zu Spielen überall außerhalb Berlins  führen notwendig durch das Staatsgebiet der DDR, und Herberger befürchtet Probleme bei der Aus- und Einreise. Andere Stimmen munkeln freilich, dass Deinert aus ganz anderen Gründen vom  ehemaligen Veilchentrainer nicht nominiert wird. Denn dem harten Hund Herberger missfällt das großstädtische, das Bohèmien-Milieu der Tennis Borussia. Besonders wettert er gegen den Alkohol- und Tabakkonsum, der auch bei den Spielern gang und gäbe ist. Schon während seiner aktiven Zeit Ende der 1920er Jahre hatte Seppl darunter zu leiden gehabt, dass er als provinziell, als Streber und Wichtigtuer verrufen war. Der keusche Josef, spotteten sie, wie Herberger-Biograph Jürgen Leinemann berichtet. So einem muss eine starke und eigenwillige Persönlichkeit wie Rulle Deinert erscheinen wie ein Geist aus der Vergangenheit.

Am 1. Dezember verstirbt Rudolf Junik an den Folgen eines Autounfalls. Die Lücke, die der Stopper hinterlässt, ist riesig. Junik war ein Könner, nahm an einigen Nationalspieler-Lehrgängen Herbergers teil. Am 17. Juni 1951 saß er auf der Reservebank, als die deutsche Auswahl auf die Türkei traf. Und die Berliner liebten ihren Pepe, der von ihnen 1952 mit Abstand zum beliebtesten Spieler Berlins gekrönt wurde. In diese Rolle muss nun Neuling Deinert hineinwachsen, der zu Beginn der Saison 1951/52 von Minerva zu den Veilchen gelotst worden war.

Als Knabe kickt Rulle, geboren am 2. Juni , beim Grünauer BC (1938 -1944), der SG Köpenick (1945 – 1950) und später für ein Jahr bei der Minerva 93 (1950 – 1951). Bei den Veilchen erweist er sich als überaus würdiger Nachfolger für Pepe Junik. Ein knallharter Verteidiger und spielerisches Ausnahmetalent. Insgesamt bestreitet Deinert 268 Ligaspiele in , davon allein 242 für Tennis, später übernimmt er als Kapitän die Verantwortung auf dem Grün. Für die Berliner Auswahl streift er sich 32mal das Jersey über. Und bei der B-Nationalelf springt Herberger doch über seinen Schatten, Rudolf Deinert am 24.3.1954 gegen England (B) zu nominieren.

Jürgen Gardiewski steht als Steppke unter den Zuschauern im . Ab 1956 pilgert der Elfjährige als Fan stets ins Mommsenstadion (um den Fahrpreis zu sparen, meist von Steglitz zu Fuß anreisend) oder zu den anderen Berliner Plätzen. Besonders beeindruckt es ihn, wenn Tausende als Running Gag ihren Lieblingsverteidiger anfeuern. Rulle, Rullllllle!!!!!, donnert es, wenn sich Deinert den Ball für einen Standard zurecht legt. Das ist ungewöhnlich, denn damals gehörten Verteidiger noch weniger zu den Adressaten von Liebesbekundungen der Fans, als es heute der Fall ist. Deinert war ein harter, fairer Verteidiger „alter Schule“ (was auch sonst), der sich aber gern auch mal als strafraumnaher Freistoßschütze anbot, natürlich nicht so erfolgreich wie mancher Freistoßspezialist heutiger Version.

Rulle! Rulle! In diesen Rufen steckt auch eine gehörige Portion Humor, der bis heute seinen festen Platz im Mommsenstadion hat. Und es ist eine Liebeserklärung an einen der beliebtesten Spieler des Teams.

Denn Rulle Deinert ist nicht nur ein außergewöhnlicher Fußballer; er gehört zu jenen Spielern, bei denen Genie und Eigenwilligkeit Hand in Hand gehen. Rulle polarisiert, doch die allermeisten Veilchenfans lieben ihn für seine exzentrischen Auftritte. Wolf-Dietrich Block wird als Zuschauer Zeuge einer dieser ungewöhnlichen Einlagen. Ostern 1952. Die Tennis Borussen begehen ihr 50tes Jubiläum mit einem Spiel gegen 04. Aus der ganzen Welt reisen Borussen an (selbst aus Südafrika kommen sie!), und wer im Fußball Rang und Namen hat, sitzt unter den Zuschauern: DFB-Präsident (und ehemaliges TeBe-Mitglied) Peco Bauwens, der ehemalige Veilchenstürmer, -trainer und Bundestrainer Josef Herberger, auch ist anwesend, sowie zahlreich Prominenz aus Politik und Gesellschaft. Da ein optischer Trikot-  und Hosenunterschied (Schalke blau/weiß, TeBe lila/weiß) von den 75 000 Zuschauern (die sich bereits nach wenigen Minuten lautstark beschwerten!) nur schwer auszumachen war, wurde, wie Augenzeuge Block sich erinnert, das Spiel kurzfristig  für einen Hosentausch unterbrochen. Auf dieser „Bühne“ zog sich auch Rulle seine weiße Hose aus – er hatte aber nichts darunter! – um dann in eine blaue zu schlüpfen. Das Olympiastadion erzitterte durch tausende lachender Zuschauer in seinen Grundfesten!

Elf Jahre lang erfreut Rulle Deinert seine Tennis Borussen. Zwei Wochen vor dem Mauerbau zieht er nach West-Berlin, um sein letztes Punktspiel für die Veilchen am 25.3.62 beim 3:0-Sieg über Wacker 04 zu bestreiten. Doch dann zieht es ihn aus privaten Gründen zurück nach Köpenick. Aber gleich nach dem Mauerfall im Herbst 1989 gehört er zu den ersten, die dem Mommsenstadion erneut ihre Aufwartung machen.

Rudolf Deinert verstarb am 24. April 2013.

Die Tennis Borussen erinnern sich an ihre treue Seele aus Köpenick. Sie erinnern sich an einen großartigen Sportler und liebenswerten Sportsfreund.

Rudolf "Rulle" Deinert (links) neben Männe Wenske.

Rudolf „Rulle“ Deinert (links) neben Männe Wenske. Foto: unbekannt; Quelle: Sammlung Buschbom.

*Recherchiert von der Homepage die Die Helden von Bern.