Der erste Fußball-Trainer Deutschlands, Richard Girulatis, war der erste Trainer der Berliner Veilchen
Von Erik Eggers
Nicht einmal Dänemark, das kleine Dänemark, wollte 1923 noch gegen den deutschen Fußball antreten. Die Engländer, das große Vorbild, schon gar nicht. Das nagte an Richard Girulatis. Beide Fußballverbände hatten den traditionellen Länderwettkampf aufgekündigt „mit der Begründung, unsere Leistungen seien zu gering, das englische Publikum könne kein Interesse entgegenbringen“, schrieb der Fußball-Lehrer 1923 zerknirscht, im Vorwort für die vierte Auflage seines Lehrbuches „Fußball. Theorie, Technik, Taktik“. Der deutsche Fußball, konstatierte er nüchtern, sei allenfalls zweitklassig. Und das „trotz der großen Ausbreitung, die der Fußballsport in Deutschland gefunden hat, sind unsere Leistungen, verglichen mit denen anderer Nationen, welche das Fußballspiel zur gleichen Zeit wie wir oder gar noch später aufgenommen haben, nicht gerade hervorragend zu nennen“.
Girulatis’ Worte wogen schwer im Fußball-Deutschland der Zwanziger Jahre. Seine Fachkenntnis wurde allenthalben anerkannt, das Engagement gewürdigt, die Erfahrung respektiert. Mit besagtem Lehrbuch, das 1919 erstmals erschienen war, hatte Girulatis eine erste ernsthafte fußballtheoretische Auseinandersetzung abgeliefert. Noch mehr Ruhm schöpfte er aus seiner praktischen Tätigkeit als erster deutscher Fußballtrainer. Nicht umsonst bezeichnete ihn die Zeitschrift Der Fußball-Trainer, als sie 1967 eine Serie über „Reichs-, Bundes- und Verbandstrainer“ publizierte, Richard Girulatis als „Ahnherren aller deutschen Fußball-Trainer“.
Geboren wurde Richard Girulatis am 21. August 1878 als mittlerer von drei Söhnen in Berlin. Ursprünglich stammte seine Familie aus Girulai, einem kleinen Dörfchen im Memelgebiet (dem heutigen Litauen). Girulatis‘ direkte Vorfahren aber wuchsen in Ostpreußen auf. Aufgrund wirtschaftlicher Nöte zogen seine Eltern in den frühen 1870er Jahren in die Berliner Metropole, wo sein Vater als Schmied die ersehnte Arbeit fand: Bei Schultheiß in Kreuzberg beschlug er Brauereipferde, welche schwere Bierfässer auslieferten. Aus der Jugend ist wenig bekannt, nur so viel, dass ein sportenthusiastischer Lehrer seine Begeisterung auf Girulatis und einige seiner Schulfreunde übertrug, so dass sie, just aus der Schule entlassen, im Juli 1892 den „Berliner Thor- und Fußballklub Union“ gründeten, die spätere „Union 92 Berlin“. Aus sozialhistorischer Sicht ist dabei bemerkenswert, dass sich die Mehrheit der Vereinsmitglieder nicht – wie in jener Zeit eher üblich – aus Studenten rekrutierte, sondern aus proletarischen „Handwerkerlehrlingen“.
Wie viele andere Vereine pflegte Union auch andere „Sports“, wie sie damals hießen, etwa Kricket. Fußball aber spielte die wichtigste Rolle. Weil dem Verein anfangs kein eigenes Terrain zur Verfügung stand, trollten sich die Jugendlichen auf dem ehemaligen Exerzierplatz des Tempelhofer Feldes, der Wiege des Berliner Fußballsports, und kamen so schnell in Berührung mit anderen Pionieren des deutschen Fußballs. Einem Neffen erzählte Girulatis oft und mit großem Stolz, dass er in jener Ära die Koffer des berühmten Malers Georg Leux tragen durfte, dem charismatischen Gründer des ersten deutschen Fußballvereins, BFC Frankfurt. Girulatis’ Verein, der 1927 zusammen mit Vorwärts 90 zu Blau-Weiß 90 fusioniert wurde, avancierte nach der Jahrhundertwende zu den besten in Deutschland, wurde 1905 gar Deutscher Meister. Diesen Triumph erlebte der Klubmitbegründer allerdings nicht aus nächster Nähe, denn er befand sich – eingeladen von Verwandten – zwischen 1903 und 1908 in den Vereinigten Staaten, wo er das fortschrittliche Sportsystem an den Universitäten studierte.
Wieder zurückgekehrt, stellte Girulatis der ersten Mannschaft von Union 92 seine, wie er später bescheiden formulierte, „sportlichen Erfahrungen zur Verfügung“, und zwei Jahre später stellte dieser Klub wieder sportliche Spitze dar. Seit 1912 trainierte er – noch ehrenamtlich, da der Vereinskassierer eisern den Amateurparagraphen anwandte – die erste Mannschaft von Tennis Borussia Berlin, einem Verein, wie Girulatis wusste, „auf hohem gesellschaftlichen Niveau“. Allein der Umgang mit den vielen wohlhabenden Mitgliedern muss für den Sohn eines gewöhnlichen Schmieds, der Buchhalter gelernt hatte, einen immens hohen Stellenwert gehabt haben – und gleichzeitig Antrieb, diese Stellung weiter auszuüben. Auffallend großer Ehrgeiz jedenfalls trieb den Trainer. „Wir alle unterwarfen uns dem Können und Willen des tüchtigen Girulatis, der sich in selbstlosester Weise dem Amte des Trainers hingab“, schrieb der TeBe-Spieler Ernst Rosskopf später über diese Zeit, „ein schweres Kämpfen hub an, viele Aufopferung und eiserne Disziplin wurden von der I. Mannschaft verlangt, denn der Verein hatte seinerzeit nichts weiter als seinen guten Namen.“
Wie das Training damals genau aussah, das ist nicht überliefert. Aber sicher wird Girulatis seine Mannschaft mit vielen Übungen aus der Leicht- und Schwerathletik konfrontiert haben, durchaus unüblich in Zeiten, in denen so etwas wie eine Trainingslehre für den Fußball schlicht nicht existierte. Alfred Rahn und Anton Fendrich jedenfalls konnten in ihrem 1914 erschienenen Buch „Fußball“ auf keine Trainingsmethodik für den Fußball hinweisen, so dass sie sich in ihrer Not auf allgemeine Ratschläge des seinerzeit berühmten Sportarztes F.A. Schmidt kaprizierten. „Vernünftiges Training“ bestand damals, so wurde Schmidts Buch „Mein Körper“ zitiert, aus „regelmäßiger, höchstmöglich gesteigerter Muskelübung, welche besonders auch auf Kräftigung und Entwicklung der Atem- und Kreislauforgane abgezweckt ist“ und vor allem aus einer „geeignete Lebensführung“, welche „hinsichtlich der Kost Entfettung und Entwässerung der Körpergewebe, Ansatz kraftgebender Muskelsubstanz, Vermehrung der roten Blutkörperchen“ anstrebte. Auch waren „schwächende Genüsse und zwar Tabak, Alkohol und Geschlechtsgenuß“ streng fernzuhalten. Ob die Spieler das strikt befolgten, ist nicht überliefert. Girulatis jedenfalls konnte derlei Verhaltensregeln wenig abgewinnen und orientierte sich an den Gepflogenheiten des englischen Fußballs, die er von in Deutschland tätigen Kollegen wie dem Meistertrainer Bill Townley übernahm. Parallel dazu entwarf er eigene Trainingsprogramme.
Das Ergebnis: Mit Girulatis kam der sportliche Erfolg zu Tennis Borussia, 1914 stand der Aufstieg in die höchste Klasse. Und so erschien seine Verpflichtung dem Deutsche Fußball-Bund (DFB) als logisch, als der Verband im Vorfeld der Olympischen Spiele 1916 in Berlin alles daran setzte, ein sportliches Debakel wie bei der vorherigen Austragung 1912 in Stockholm zu verhindern. Laut DFB-Jahresbericht von 1913/14 waren zunächst gemeinsame Lehrkurse geplant, „um dann in den ihnen zugewiesenen Verbänden (die) Arbeit durch Ausbildung von Mannschaften und einzelnen befähigten Spielern zu Fußball-Lehrern zu beginnen.“ Girulatis zählte zu insgesamt fünf bezahlten Trainern, neben ihm sollte mit Edgar Blüher nur noch ein weiterer Deutscher tätig sein, die anderen Trainer vermittelte Walther Bensemann aus England. Eingestellt als Fußball-Lehrer des Verbandes Brandenburgischer Ballspielvereine (VBB), war Girulatis der von der Reichshauptstadt Berlin aus operierende sportliche Leiter eines nationalen Vorhabens, das ursprünglich mit 50 000 Reichsmark, aufgeteilt auf fünf Verbände, ausgestattet werden sollte.
Einige Lehrgänge konnten noch durchgeführt werden, dann karikierte der Erste Weltkrieg die Friedensidee der Olympischen Spiele. Girulatis wurde nach Kriegsbeginn eingezogen und kämpfte zunächst in den Schützengräben an der Westfront, um sich 1917 in einem Heimatlazarett als Sportlehrer für Amputierte zu versuchen. Vorher geriet er offenbar in schwere Not, denn im Februar 1915 gewährte ihm der DFB eine monatliche Unterstützung von 50 Reichsmark, die indes im April 1916, so der erste DFB-Kriegsjahresbericht, „mangels Barmitteln eingestellt werden“ musste. Die Ideen jedoch, die Girulatis zur Verbesserung des deutschen Fußballs einbringen wollte, sind dennoch überliefert: in ebenjener Schrift Fußball, die nach dem Krieg erschien. Diese knapp 150 Seiten markierten einen Grundstein deutscher Fußballtheorie. Girulatis erklärte die Charaktere der Spielpositionen, die damals noch Mittelläufer hießen, diskutierte ausführlich taktische und technische Probleme, dokumentierte Regeln, Ordnungen und Satzungen. Was dieses Lehrbuch jedoch aus heutiger Sicht so bemerkenswert macht, ist sein ideologisches Fundament, die erzieherische Basis, auf der jeder Satz ruht.
Ganz dem Zeitgeist verhaftet, den die tiefe Depression nach dem verlorenen „Großen Krieg“ prägte, pries Girulatis auch den Fußball als ein Mittel zur Volksgesundung. Vor allem aber wies seine „Theorie des Fußballspiels“ hin auf das pädagogische Moment. Fußball sollte Massensport werden, damit „alle in ihm liegenden hohen erzieherischen Werte Allgemeingut unserer Volkes werden: Mut, Kraft und Entschlossenheit, den Kampf der Nationen zu bestehen; Selbstlosigkeit und Manneszucht, willig zu tun die Pflicht des Bürgers zum Wohle des Ganzen, Achtung des Gegners, vornehme Kampfart, auch wenn der Sieg in weiter Ferne.“ Dieses Credo, ergänzt um das Element des Gemeinschaftskampfes, spitzte Girulatis schließlich zu auf den Lehrsatz: „Elf Freunde müßt Ihr sein, um Siege zu erringen“. Er wollte aus den Jungen eben „nicht nur gute Fußballspieler, sondern auch anständige Charaktere aus ihnen machen“, wie er es im Juni 1945 in einem Brief an Carl Diem ausdrückte.
Den idealen Gemeinschaftsgeist verkörperte laut Girulatis der Lehrmeister aus Großbritannien. Als Musterbeispiel hob sein Lehrbuch die Spielauffassung hervor, die Celtic Glasgow 1914 in einer Tournee durch Deutschland gezeigt hatte. Girulatis schwärmte von dem „Eindruck der Leichtigkeit“ der Spielweise, von den Spielfolgen „diktiert vom Willen der Spieler“, und er stellte die zentrale Position des Mittelläufers heraus, „dessen Spielweise die gesamte Mannschaft beeinflußte und auf dessen in seiner Spielweise liegenden Ideen die ganze Mannschaft blitzschnell einging und die sie in der Tat umsetzte“. Diese Grundideen des Gemeinschaftskampfes seien „im englischen Volke fest verwurzelt, sie kommen im Leben dieser Nation immer wieder zur Geltung und geben uns eine Erklärung für die überragende Machtstellung dieses Volkes in der Welt. Die Zeiten des Chauvinismus sollen jetzt vorüber sein, wir müssen uns, ohne unser Nationalbewußtsein auch nur im geringsten aufzugeben, bemühen, hervorragende Eigenschaften anderer Nationen zu erkennen und zu würdigen, dann erst, frei von jeder nationalen Überhebung, werden wir auch klar und deutlich erkennen, was uns Deutschen nottut.“ Diese Sätze sind gleichzeitig Zeugnis davon, wie fest Girulatis selbst in der schwierigen Nachkriegszeit an das Prinzip der Internationalität des Fußballs glaubte.
„Stillstand bedeutet Rückstand“ hieß sein Motto hinsichtlich der technischen Ausbildung. Eine systematische Einzelausbildung aller Spieler fordernd (Lehrsatz: „Das Kombinationsspiel kann nur von einer Mannschaft mit Erfolg gepflegt werden, welche aus gut durchgebildeten Einzelspielern besteht.“), definierte er en Detail das Anforderungsprofil an jede Spielposition. Und in puncto Taktik formulierte er das Ausloten aller notwendigen Faktoren: „Dazu gehören das Wetter und davon abhängig die Bodenbeschaffenheit, Windverhältnisse, Stand der Sonne bei Beginn des Spiels und in der zweiten Spielhälfte, ferner die erkannte Eigenart der Spielweise des Gegners, die Kenntnis seiner gut besetzten Posten und der seiner Mannschaft hier und dort vielleicht anhaftenden Mängel.“
Die Ausführungen des Lehrbuches hinsichtlich der Aufgaben des Trainers besitzen noch heute programmatischen Charakter. Unerlässlich war demnach ein „makelloser Ruf in bezug auf Lebensführung und sportliche Gesinnung“, ohne den straffe Disziplin in der Mannschaft unmöglich sei. Außerdem „muß er ein guter Menschenkenner sein, um zu wissen, wie er den Einzelnen anfassen muß, denn es ist grundfalsch, alle nach einem System gleichmäßig behandeln zu wollen. Vor allem muß er es verstehen, sich die Liebe der jungen Leute zu erwerben und zwar durch Anteilnahme an den kleinen Sorgen der Spieler, die ihm um so williger folgen werden, wenn sie sehen, daß sie bei ihm Verständnis auch für das finden, was eigentlich nicht im direkten Zusammenhang mit dem Sport steht.“
Zusätzlich verlangte Girulatis von einem guten Trainer einen sorgsamen Umgang mit Kritik an seinen Spielern: „Wer die Psyche des Sportmannes kennt, der weiß, daß eine schlechte Leistung ihn schon selbst sehr niederdrückt, und daß eine harte Kritik an Ort und Stelle wie ein Peitschenhieb von dem davon Betroffenen empfunden werden muß. Die Spieler müssen davon überzeugt sein, daß der Trainer ihr Freund ist, der jederzeit bereit ist, seine schützende Hand über ihn auszubreiten.“ Besonders wichtig erschien ihm souveräne Gelassenheit und Ruhe: „Mögen Zuschauer und Spieler auch den Siedepunkt der Sportaufregung erreicht haben, der Trainer muß, äußerlich wenigstens, eiskalt bleiben. Nur so ist er imstande, seine Mannschaft zu ruhigem, überlegtem Spiel zu bringen.“ Aus den Sätzen des Lehrers spricht ein hohes Maß an psychologischer Feinfühligkeit.
Als 1920 mit der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin die erste Sportuniversität der Welt ihre Arbeit aufnahm, kam nur Girulatis, der immer ein wissenschaftliches Fundament gefordert hatte, als Dozent für den Fußball in Frage. „Fußball wurde mit einem Vortrage über die erzieherischen Werte des Fußballspiels und Aufgaben des Fußballehrers eingeleitet“, hieß es im ersten Tätigkeitsbericht im Sommersemester, im Winter erteilte Girulatis dann 42 Stunden lang praktische Lektionen: „Gelehrt wurden: die verschiedenen Stöße ohne und mit Ziel, das Stoppen, das Laufen mit dem Ball mit nachfolgendem Schuß, Zuspielen im Kreis, Stellungsspiel. Zum großen Teil sind die Studierenden Anfänger. Die Fortschritte sind bei denjenigen, die regelmäßig auf dem Spielplatze waren, gut.“ Diese Kurse waren der Beginn einer deutschen Fußballwissenschaft, die ab 1921 von Willi Knesebeck und ab Sommer 1924 schließlich von Otto Nerz fortgeführt wurden. Im Wintersemester 1927/28 übrigens schrieb sich ein Student namens Sepp Herberger ein.
Diese Aufbauhilfe war beileibe nicht Girulatis‘ einziges Betätigungsfeld. Im Gegenteil: In der Weimarer Republik, in der Fußball in Deutschland zum Millionensport geriet, ist der Aktivismus des Trainerpioniers gar nicht zu überschauen. Er trat ein für die letztlich am Widerstand der Verbände und Vereine gescheiterte Idee einer Volkshochschule für Leibesübungen, von der er sich eine schnellere Verbreitung des Fußballs in ländlichen Regionen versprach. Im Auftrag des DFB wurde unter Girulatis fachlichen Leitung 1920 ein Fußball-Lehrfilm von der UFA produziert, um auch im neuen Medium Kino das Fußballspiel zu popularisieren. Seit 1923 arbeitete Girulatis selbständig als Sportlehrer, unter anderem bei Reichswehr und Polizei. Und nebenher betrieb er in der Schönhauser Allee ein allerdings nur mäßig erfolgreiches Sportfachgeschäft, in dem er natürlich auch seinen original „Girulatis-Ball“ verkaufte.
Und er trainierte weiterhin Spitzenmannschaften wie TeBe Berlin (1920-1924, mit Unterbrechungen), Hertha BSC (1928/29) oder den Hamburger SV (1921), und blieb so mit den Problemen des modernen Fußballs vertraut. Zwangsläufig kam er so mit dem Amateurparagrafen in Berührung, der von keinem Spitzenspieler wirklich ernst genommen wurde. Denn die Aktiven, die teilweise vor über 60 000 Zuschauer antraten, sahen schlicht nicht ein, warum sie als Hauptakteure mit lächerlichen Aufwandsentschädigungen abgespeist werden sollten. Girulatis duldete die verschleierten Zahlungen an die Spieler. 1960 beschrieb er in einem Brief an Diem die damalige Praxis an einem konkreten Beispiel. Als Trainer von Hertha BSC habe er eine Woche vor einem entscheidenden Spiel um die Berliner Meisterschaft ein abgelegenes Trainingslager anberaumt. Zwei Tage vor der Abfahrt trat ein Spieler „an mich heran und bat mich, sein Gesuch um geldliche Entschädigung, damit er sich gut pflegen könne, zu unterstützen. Er war nämlich nicht in der Lage, nach dem Verbandsheim mitzufahren. Ich gab ihm keine Antwort und schließlich wandte er sich wütend ab mit den Worten: ‚Sie tun ja so, also ob Sie von nichts wüßten.‘ Auch darauf bekam er keine Antwort. Dieser eine Vorgang zeigt Ihnen, daß ich ganz rechtzeitig erkannt hatte, daß es sich um eine unaufhaltsame Entwicklung handelte.“ Um die kommerziellen Geburtswehen eines immer populärer werdenden Sports.
Die „Machtergreifung“ 1933 bedeutete auch für Richard Girulatis einen tiefen Einschnitt. Während der bürgerliche Sport und seine Funktionäre in vielerlei Hinsicht vom „Dritten Reich“ profitierten, wollte sich der mittlerweile 54-Jährige, der bereits 1899 in die SPD eingetreten war, wie einer seiner zwei Söhne sich erinnert, „nicht mit dem braunen Gesindel anfreunden“ und ging zwei Jahre in die Arbeitslosigkeit. Kompromisslos lehnte er jeden direkten politischen Eingriff in die Welt des Sports ab, der mit dem Ausschluss der Juden aus dem Sport im Frühjahr 1933 zweifellos gegeben war. Und zog sich zurück aus dem Fußball. Es gab damals nicht viele, die seinem wahrhaft leuchtenden Beispiel folgten. Jedenfalls erscheint das Verhalten, das Richard Girulatis in dieser Zeit an den Tag legte, als radikales Gegenmodell zum tagtäglichen Opportunismus vieler anderer Sportsleute, die später erklärten, sich arrangiert zu haben.
Eine Episode, erzählt von seinem damals etwa zehnjährigem Sohn, zeugt von Abneigung und Schlitzohrigkeit des Fußballpioniers. Einmal wären anlässlich eines nationalsozialistischen Festtages SA-Männer an die Tür gekommen und hätten gebrüllt: „Sie haben keine Fahne!“ Daraufhin Girulatis schlagfertig: „Nee, ich bin arbeitslos, ich kann mir keine leisten.“ Er musste erst das Hakenkreuzbanner raushängen, als die SA-Leute eins geholt hatten. Nach Auskunft seines Sohnes erhielt er schließlich 1935 eine Arbeit als Büroangestellter im Heereswaffenamt, danach in Görings Luftfahrtministerium. Zuweilen hielt er Vorträge im Rundfunk, und 1939 präsentierte er dem Reichserziehungsministerium einen Entwurf für das, was er im Mai 1933 in einem melancholischen Brief an Diem als die Vollendung seines Lebenswerkes ankündigte: „Das Deutsche Nationalspiel der Zukunft“. Es handelte sich um eine Variante des Schlagballspiels, das von Studenten im Berliner Hochschulinstitut für Leibesübungen nach einem Test für gut befunden worden war, nach dem Krieg jedoch völlig in Vergessenheit geriet. Der Fußball, das Nationalspiel der Deutschen, an dessen Entwicklung Girulatis so maßgeblich beteiligt gewesen war, duldete kein zweites neben sich.
Als Berlin nach 1945 wieder aufgebaut wurde, war der Pionier wieder gefragt. Aufgrund seiner Integrität und Sprachkenntnisse avancierte Girulatis zur rechten Hand des US-Sportoffiziers Huff und tat deutlich kund, was er von den personellen Kontinuitäten im deutschen Sportwesen hielt. Als er davon erfuhr, dass Herberger an der Deutschen Sporthochschule Köln lehrte, schrieb er 1947 erbost an den Rektor Diem, der, selbst starken Angriffen ausgesetzt, Herberger verpflichtet hatte. Girulatis protestierte: Es könne nicht angehen, „solche Leute sofort nach ihrer Entnazifizierung wieder auf die deutsche Jugend loszulassen, wie z.B. Herberger.“ Öffentliche Kritik an Herberger, der 1933 in die NSDAP eingetreten war und von seiner Stellung als Reichstrainer stark profitiert hatte, war indes von Girulatis nicht zu vernehmen. Drei Jahre später wurde der „Chef“ Bundestrainer. Spätestens nach dem Berner WM-Triumph verstummten kritische Worte ohnehin. Girulatis, der im Stillen wirkte, widmete sich fortan dem Aufbau einer seriösen Fußballlehrer-Ausbildung, von der ehemalige Berliner Profis wie Kirsei oder Sobek profitierten, sowie der institutionellen Pflege des 1918 von ihm begründeten „Verbandes Deutscher Sportlehrer“.
Der Vater aller deutschen Fußballtrainer hat selbst im hohen Alter den großen Spaß am Fußball nie verloren. In seinem Mercedes 300 fuhr Girulatis ungeachtet einer schweren Arthrose jedes Wochenende auf den Fußballplatz, um sich den Nachwuchs anzuschauen. „Diese Jugend hat große Fortschritte gemacht“, schrieb er 1958 hocherfreut an seinen alten Weggefährten Diem, „nicht nur in den technischen Fertigkeiten, sondern auch in der sportlichen Haltung. Dazu beigetragen zu haben ist die größte Freude meines Lebensabends.“
Richard Girulatis, der am 12. Mai 1963 knapp 85-jährig starb, hat mit seinem Lehrbuch das deutsche Trainer-ABC buchstabiert. Fachlich unübertroffen sowie, wie DFB-Chronist Koppehel 1954 meinte, ein „Idealist reinsten Wassers“, ist das Leben dieses Pioniers heute in Vergessenheit geraten. Nur der altmodisch wirkende Spruch „Elf Freude müsst ihr sein“ kündet manchmal von der Existenz einer bemerkenswerten Biografie, die gleichzeitig als lebendige Folie deutscher (Fußball-)Geschichte dient.