Wilde, der Spielmacher. Verletzt. Steinbeck, der überragende Goalie. Verletzt. Wer kann, wer wird auflaufen, wenn die Veilchen zum Rückspiel in der Deutschen Meisterschaft 1950/51 auf den HSV treffen? Bange Fragen.
Pech hatten die Veilchen in ihren bisherigen Begegnungen gehabt. Die Gruppe 2, in der die Veilchen auflaufen, ist besonders hochkarätig besetzt: Preußen Münster, Hamburger Sportverein, 1. FC Nürnberg, heißen die Gegner. So ein ausgewogenes Feld findet man sonst selten. Auch dem Berliner Meister Tennis Borussia bescheinigt die Presse gerne, dass er keine der prominentesten Mannschaften der Bundesrepublik mehr zu fürchten hat. 3:2 hatten die Lila-Weißen bislang in Hamburg verloren (am 6. Mai) und 2:3 gegen die Glubberer (am 13. Mai). Die Niederlagen: äußerst unglücklich. Allein gegen Preußen Münster konnten die Veilchen drei zu zwei Netze machen (am 20. Mai). Mit diesem Verlauf wird TeBe zum Zünglein an der Waage: Schlagen sie die Hamburger und holt der 1. FC Nürnberg im Münster-Stadion gegen die in letzter Zeit stark nachlassende Preußen-Elf beide Punkte heraus, so dürfte sich aller Wahrscheinlichkeit nach der Club zum zweiten Male nach dem Kriege den Eintritt ins Finale gesichert haben. Aus dieser Perspektive betrachtet, wird der HSV mit aller Macht stürmen, um den Anschluss zu den führenden Männern von der Noris zu halten.
Mit den Chancen auf den Titel schwindet das Interesse des Berliner Publikums. Nur noch der harte Kern der Berliner Fans möchte TeBe siegen sehen. 85.000 waren es drei Wochen zuvor gegen Nürnberg gewesen, mancher spricht von nahezu 100.000. Jetzt sind es nur noch 70.000, die sich zum Anstoß ins Olympiastadion verirren.
Als die Mannschaft einläuft, ist der Kelch, den der Fußballgott mit den Befürchtungen der Versammlung füllt, nur halb voll. Oder doch halb leer? Wilde fehlt, aber Bubi Steinbeck nimmt im Kasten der Lila-Weißen seine Position ein. Er hatte sich im Spiel gegen den Nürnberger Club durch die unglückliche Rückgabe von Warstat, Kopf und Kragen riskierend, beim Zusammenprall mit Nürnbergs Halbrechten Morlock an der Hand verletzt.
Für Wilde der kleine Manthey. Manthey mit dem schnellen Antritt und dem großen Kämpferherzen. Ein ums andere Mal wirbelt er die Hamburger Hintermannschaft durcheinander. Klein-Manthey gewann gegen seinen berühmten, fast zwei Köpfe größeren Widerpart Spundflasche viel mehr Zweikämpfe als er verlor. Ausgiebig musste sich Hamburgs Mannschaftskapitän mit Manthey beschäftigen. Auch Schmutzler weiß zu bezaubern. Sein Durchbruch in der 49. Spielminute mit einer Bombe an den Pfosten, niemand hätte sich gewundert, wenn dieser gebrochen wäre, war alleine das Hinkommen wert. Der erste Durchgang gestaltet sich ausgewogen. Auf hohem Niveau. Doch zur Verzweiflung der Hamburger Offensive steht die lila-weiße Abwehr. Hervorragend vor allem der sich an diesem Tage selbst übertreffende Bubi Steinbeck. Trotz seiner Verletzung bleibt er durch wundervolle Paraden Sieger. Noch eine Minute vor Abpfiff der ersten Halbzeit scheitert der HSV am Veilchen-Keeper, der einen Woikowiak-Flachschuss, den tausend Torwächter durchgelassen hätten, imponierend mit blitzschnellem Wurf am Überschreiten der Linie hinderte.
17jährig hatte Karl-Heinz Steinbeck 1936 seine Karriere in der Ersten Herren des BFC Preußen begonnen, zu dem er seit 1927 pilgerte. Rasch macht er auf sich aufmerksam. Bubi erhält Einladungen zu den Nationalspieler-Lehrgängen von Otto Nerz, später lädt ihn auch Bundestrainer Herberger zu Lehrgängen. 17mal steht er im Laufe seiner Karriere im Tor der Berliner Stadtauswahl. Ein tollkühner Hund, einer, auf den sich Vorderleute verlassen konnten. Wenn er „weg“ gerufen hat, haben auch alle die Köpfe eingezogen. Ein harter Bursche. So einer heißt Bubi?
Als ich anfangs mit meinen Kumpels auf der Straße geknödelt habe, mit Ponyhaarschnitt und dem üblichen Matrosenanzug ausgestattet, rief meine Mutter des öfteren vom Balkon herunter, als ich wieder mal die Zeit vertrödelt hatte, „Buuubi komm‘ rauf!“ Da ich mit meinen Kumpels zum BFC Preußen ging, wurde auch „Bubi“ weitergetragen.
Der Krieg ist ein tiefer Einschnitt, auch in die Karrieren der Sportler. Es ist der Fußball, der ihm wohl das Leben rettet. Steinbeck ist seit dem Überfall auf Polen in der Wehrmacht. Von Anfang an dabei. Auch das Gemetzel des so genannten Russland-Feldzugs überlebt er, bis seine Einheit in Stalingrad einzieht. Von den rund 290.000 Soldaten, die im Sommer 1942 die Stadt angreifen, wird etwa die Hälfte die Kapitulation der 6. Armee am 3. Februar 1943 nicht erleben.* Insgesamt fordert der „Kessel von Stalingrad“ etwa 700.000 Tote, vor allem Zivilisten und Rotarmisten. Nach zwei Jahren, die er ununterbrochen im Einsatz war, erhält Steinbeck in Stalingrad schließlich den Urlaubsbefehl. Dabei hatte ich gar keinen Urlaub beantragt, erzählt er Jahrzehnte später dem Magazin Libero in einem langen Interview. Er gehört zu den wenigen Glücklichen, die noch aus Stalingrad ausgeflogen werden können. Kaum in Berlin will er bereits am ersten Wochenende den Kasten hüten. Was sonst? Und dann geschah das, weshalb ich König Fußball für alle Zeiten dankbar sein werde. Bubi verletzt sich bei einem Zusammenprall mit Hans Plückhan vom 1. FC Saarbrücken. Gebrochener Arm. Pech? Im Lazarett mögen sie ihn, Junge, bleib hier, in Stalingrad geschieht Fürchterliches.
So verbrachte ich ein gutes Jahr in diesem Lazarett, denn die Ärzte ließen mir den Gipsarm immer noch dran, obgleich ich beim BFC Preußen schon einige Male im Tor stand (mit Gipsarm).
Als er schließlich wieder an die Front muss, erhält er in Estland einen Heimatschuss in den linken Unterarm. Wieder hat er irres Glück, wird Ausbilder und kehrt deshalb nicht mehr zu den „kämpfenden Truppen“ zurück. Kurz vor Kriegsende setzt sich Steinbeck von seiner Einheit ab, entzieht sich so der Kriegsgefangenschaft. Zusammen mit einem Freund schlägt er sich nach Berlin durch.
In Berlin organisieren die Alliierten nach Kriegsende den Spielbetrieb völlig neu. Die Vereine werden offiziell aufgelöst, und stattdessen Sportgruppen (SG) nach den Stadtteilen eingerichtet. Karl-Heinz wohnt in der Skalitzer Straße, er kickt fortan also in der Züllichauer Straße für die SG Kreuzberg-Ost. Hier ist der Trainings- und Spielbetrieb nur unregelmäßig. Jeder kommt, wie es ihm beliebt, ordentliche Anweisungen gab es nicht. Es ist die schönste Zeit seines Fußballerdaseins, sagt er, aber als Abschluss seiner sportlichen Karriere unbefriedigend. Da kommt 1946 die Schnösel-Mafia aus Charlottenburg gerade recht:
… durch die Städtespiele wurde so eine „Mafia“ Charlottenburg gegründet, sicher geschürt von cleveren Machern der früheren Tennis Borussia. Ich wohnte also weiter in Kreuzberg, spielte aber im Mommsen-Stadion für Charlottenburg.
Mit den (inoffiziellen) Veilchen wird er zweimal Berliner Pokalsieger – 1948/49 & 1950/51 – sowie viermal Berliner Meister – 1946/47, 1949/50, 1950/51 & 1951/52. Der stärkste Gegner kommt in diesen Tagen, als Union noch nicht so furchtbar eisern ist, aus Oberschöneweide: So gigantisch war die Konkurrenz wiederum nicht, findet Bubi. Auch das Publikum der Südostberliner will seinem Ruf nicht so recht genügen. Den leidenschaftlichsten Anhang hatte die „alte Union“ nicht. Viel lebhafter geht es beim SSV aus Spandau zu, auf dem Blau-Weiß-Platz, an der Plumpe oder auch beim BFC Südring (seiner SG Kreuzberg-Ost). Und in Charlottenburg stürmen aufgebrachte Zuschauer gar einmal den Platz und verhindern die Fortführung des Spiels, weil ein überforderter Schiedsrichter innerhalb weniger Minuten … unter fadenscheinigsten Gründen drei Charlottenburger vom Platz gestellt hatte.
1950/51 bleibt TeBe nach einer Auftaktniederlage gegen die Viktoria die gesamt Saison ungeschlagen! So souverän sah man nur selten eine Mannschaft zur Meisterschaft stürmen, und als vorläufiger Höhepunkt seiner Karriere steht Bubi Steinbeck nun während der Deutschen Meisterschaft zwischen den Pfosten.
Der zweite Durchgang gegen die Hamburger verläuft wie der erste, das Publikum freundet sich schon einmal mit einem 0:0 an. Doch dann, 6 Minuten vor dem Abpfiff.
Bei einem Angriff von links erhielt Woitkowiak im Strafraum den Ball, startete sofort, prallte mit dem herauseilenden Steinbeck zusammen. Den in Richtung Tor abtrudelnden Ball jagte der mit Sturmschritten heraneilende Adamkiewicz im Vollgefühl der Freude mit einem mächtigen Bums aus drei Metern in das leere Tore.
Alle Beobachter sind sich einig: Gewonnen hatte nicht die klar bessere Mannschaft. Glücklicher –vielleicht. Den Tennis Borussen bescheinigt die Presse gerne, Eiserne TeBe-Elf verlor ohne Wilde 6 Minuten vor Schluss … eisern stand die Mannschaft.
… als diese Männer nach 90 Minuten hin- und herwogendem Kampf dennoch geschlagen vom Platz gehen mussten, stand in ihren Gesichtern geschrieben: „Wir können es noch nicht fassen, dass wir verloren haben. Bis zum Umfallen haben wir gekämpft, oft dem Erfolg so greifbar nahe.
Das Berliner Publikum jedenfalls sieht die Veilchen als moralische Sieger. Bubi Steinbeck beschreibt die Kulisse des ins Olympiastadion emigrierten Mommsen-Friedhofs so:
Derartige Gefühle, vor einem vollen Olympiastadion spielen zu dürfen, kann man einfach nicht schildern. Dieses Brodeln, dieses Raunen, dieser Beifall … – schon allein dafür lohnten sich alle Strapazen.