Wenn der Himmel nicht mehr weint

Das „Skandalspiel“ TeBe gegen Preußen Münster, 10. Juni 1951.

Halleluja Horst! Irgendwie angelt sich Schmutzler hart an der Mittelfeldlinie einen Querpass von Warstat und startet durch. Vorbei an der verdutzten Hintermannschaft der Preußen aus Münster, vorm Strafraum bedrängt nur durch Rickmann. Schmutzler hält in seiner unnachahmlichen Art stramm drauf, und Torwart Mierzowski bekommt zwar das Leder in die Hände, lässt es aber zum maßlosen Entsetzen der Münsteraner ins Netz trudeln! Hooorst! Noch sind an diesem Sonntag, 10. Juni 1951, um 16:04 Uhr keine fünf Minuten gespielt, und schon führen die Veilchen gegen den Wundersturm aus dem Westfalenland, wie die Presse die Offensivabteilung um Adi Preissler ein ums andre Mal in den Fußballhimmel lobt.

Der hatte den ganzen Tag alle seine Schleusen geöffnet und erst kurz vor Spielbeginn seine Tränen getrocknet. Als am Nachmittag die Wolken sich lichten und Klärchen dem Himmel ein freundlicheres Gesicht verleiht, ist das Olympia-Stadion tatsächlich mit 35.000 Zuschauern so dünn wie lange nicht besetzt. Sie alle sehen eine erste Halbzeit, die die Preußen am Boden zerstört. Denn die Westfalen rechnen fest mit dem Einzug ins Finale um die Deutsche Meisterschaft 1950/51. Da hilft kein Leim, da hilft kein Kleister, Preußen Münster wird Deutscher Meister. Das Westfalenland, wie es singt und lacht. An diesem sechsten und finalen Spieltag jedenfalls schlagen dem HSV, dem Club und den Preußen aus fünf Spielen jeweils drei Siege und zwei Niederlagen zu Buche. Nur Tennis krepelt mit vier Niederlagen und einem Sieg – ausgerechnet gegen die Westfalen! – im Tabellenkeller.

Erstmals in der Geschichte des deutschen Fußballs lässt der DFB die Meisterschaft nach einem Punktsystem ausspielen. Zwei Punkte für einen Sieg, einer fürs Unentschieden, zwei Abzug bei einer Niederlage. Bei Punktgleichheit soll das Torverhältnis entscheiden. Die deutschen Fußballfans wittern Ungemach. Konnte zuvor die Tagesform einzelner Spieler über Wohl und Wehe entscheidend werden, nun also Zahlenarithmetik, wie sie abfällig monieren. Mathematik – das hat mit Fußball nichts zu tun!

Der Spieltagt birgt Dynamit, und Tennis zündelt mächtig an der Lunte. Der Veilchen-Sturm wirbelt die Münsteraner Hintermannschaft schwindelig. Rickmann wurde von Schmutzler dauernd „stehengelassen“, Pohnke musste Graf ziehen lassen und auch Lezgus .. wusste nicht zu überzeugen. Und dann die 25. Minute: Berndt war in der Seite durchgebrochen, von beiden Seiten eilten Schulte und Pohnke herbei, um das Leder aus der Gefahrenzone zu befördern, aber im richtigen Augenblick, als Schulte gerade zum Schuss ansetzen wollte, streckte Hanne Berndt instinktiv sein linkes Bein dazwischen, so dass das Leder unhaltbar ins Netz ging. 2:0! Minutenlang liegt die geschlagene Abwehr wie benommen vorm eigenen Kasten (siehe Titelfoto). Die Preußen können es gar nicht fassen und sind schwer deprimiert. Aber die Westfalen besinnen sich auf preußische Tugenden und rappeln sich wieder auf. Immerhin gelingt Schulz in der 31. Minute der wichtige Anschlusstreffer. Der erste Durchgang geht klar an die Lila-Weißen.

2. Halbzeit. Was dann geschieht, geht als erster Tornado im Wasserglas in die Geschichte des Nachkriegsfußballs ein. Unmittelbar nach Wiederanpfiff sieht es zunächst aus, als machten die Veilchen weiter, wo sie aufgehört hatten. Die Borussen drückten noch einmal für einige Minuten. Voll offensiv wurde gespielt. Doch dann macht sich das hohe Tempo bemerkbar. Insbesondere in der Abwehr, ganz auf Manndeckung abgestellt, lassen die Kräfte nach. Immer wieder gelingt es den Fünfen vom Münsteraner Wundersturm, sich von ihren lila-weißen Schatten zu lösen. Und mitten in dieser letzten Offensive der Berliner brach es über sie herein. Urplötzlich schoss der nach innen gewechselte Lammers aus 20 Metern einen unwahrscheinlich scharfen Schuss unter die Latte. Das war in der 56. Spielminute. 2:2! Von nun an ist kein Halten mehr.

72. Minute: 2:3.

75. Minute: 2:4.

78. Minute: 2:5.

80. Minute: 2:6.

86. Minute: 2:7. In Nürnberg feiern sie bereits den Einzug ins Finale, denn parallel zur Begegnung in Berlin besiegt der Club in diesen Minuten den HSV 4:1. Das Torverhältnis reicht, um den Franken den Platz an der Tabellenspitze zu sichern.

Aber dann die 88. Minute: Rachuba stellt mit einem kraftvollen Torschuss den Endstand von 2:8 her. Nun ist Preußen Münster im  Finale!

Wenige Minuten nach Abpfiff der Partie, entlässt am Mikrophon des Bayerischen Rundfunks Radiosprecher Sammy Drexel die Behauptung in den süddeutschen Äther, die Berliner Begegnung Borussia – Preußen sei zwanzig Minuten später zu Ende gegangen als das Nürnberger Parallel-Spiel der Endrunde, 1. Fußballclub Nürnberg gegen Hamburger Sportverein.

In der Frankenmetropole mag man nur noch eines glauben: Das geht nicht mit rechten Dingen zu, und so setzen die Herren hektisch ein unerhörtes Schreiben auf, das umgehend zum DFB nach Frankfurt gekabelt wird:

Behaupten absichtliche Verletzung spielerischer Fairness durch Tennis-Borussia. Spieler von Tennis- Borussia erklärten nach dem Spiel Tennis-Club, sie würden Preußen jedes Tor mehr gestatten, das diesen den Gruppensieg ermöglicht. – Beweis hierfür: Spieler Morlock, Herbolsheimer, Bergner, Vorstandsmitglied Lutter, 1. FC Nürnberg. – Gegenzeugen Wilde und Schmutzler, Tennis-Borussia. – Weitere Gegenzeugen ausdrücklich vorbehalten. Spielbeginn entgegen offizieller Anordnung zu Beginn zehn Minuten, bei Halbzeit zwanzig Minuten später als Nürnberg-Spiel. – Schiebung bei Sachlage offensichtlich. – Wehren uns mit aller Entschiedenheit gegen solche Machenschaften verantwortungsloser Vereine. Brechen ab sofort alle sportlichen Beziehungen zu Tennis-Borussia ab.

Beantragen hiermit Entscheidungsspiel über die Berechtigung zum Endspiel zwischen Preußen-Münster und Club in Frankfurt am 17. Juni 1951. Erfahren soeben, dass Berliner Publikum beide Mannschaften mit dem Zuruf „Erzschieber“ verabschiedete. Vorstandsmitglieder von Münster haben Clubmitgliedern von Münster gegenüber erklärt, Tennis-Borussia würde ihnen auf jeden Fall den Gruppensieg ermöglichen.

Der "Hunderttausend-Marks-Sturm des SC Preußen Münster 06. Illustration: Deutsche Fußball-Meisterschaft 1951. 10. Juni. 16 Uhr. Olympia-Sttadion. Vorrundenspiel Tennis Borussia - Preussen Münster. Stadionzeitschrift. Quelle: Sammlung Buschbom.

Der „Hunderttausend-Marks-Sturm des SC Preußen Münster 06. Illustration: Deutsche Fußball-Meisterschaft 1951. 10. Juni. 16 Uhr. Olympia-Stadion. Vorrundenspiel Tennis Borussia – Preussen Münster. Stadionzeitschrift. Quelle: Sammlung Buschbom.

In die Debatte mischen sich noch andere Töne; Töne, die besser zu den ideologischen Grabenkämpfen des anbrechenden 20. Jahrhunderts zu passen scheinen. Vom Hunderttausend-Marks-Sturm der Westfalen ist allenthalben die Rede. Die Mannschaft des SC Preußen 06 sei wild und ohne Rücksicht auf Verluste zusammengekauft, lautet der Vorwurf. Nur zwei Jahre ist es her, dass der DFB den Status des Vertragsspielers eingeführt hatte. 1.200 DM dürfen Spieler fortan monatlich erhalten. Damit hält im Jahr 1949 de facto der Berufssport Einzug in den deutschen Fußball. Sport-Idealisten jeder Couleur hingegen hatten bereits in den frühen 1920er Jahren befürchtet, der bezahlte Sport würde die Seele des deutschen Fußballs zerstören. Über das schleichende Gift des verkappten Berufsspielertums, von dem der Fußballkörper zu befreien sei, schimpfte der DFB schon 1918/19. Auch die Berliner Veilchen mussten sich schon früh mit solch schrillen Tönen auseinandersetzen. Von je her als Verein der feinen Pinkel verschrien, waren in den 1920er Jahren vom Berliner Tennis-Club „Borussia“ 1902 wichtige Impulse zur Modernisierung des Fußballs in Deutschland ausgegangen. Tennis Borussia könne den deutschen Fußball und die deutsche Art nicht würdig vertreten, wüteten nationalistische Kreise, als die Lila-Weißen 1924 zu einem Fußballspiel nach Paris reisten.

Und wirklich, ist dieses Spiel der Tennis Borussen gegen Preußen Münster nicht der beste Beweis dafür, dass das Profitstreben einen Traditionsclub wie den 1. FC kaputt macht? Der beste Beweis für die infamen Mittel, derer sich bedient, wer sich dem Kommerz hingibt?

Die Beschuldigten reagieren mit Empörung. In einer gemeinsamen Erklärung verwahren sich die Vereinsspitzen mit aller Schärfe gegen die ungeheuerliche Unterstellung einer Schiebung und sehen den Protest als eine im Sport bislang nicht erlebte Beleidigung an. Objektivere Beobachter wie der Gewaltige des Südwestdeutschen Fußballverbandes Fahrenbach spotten über die schlechten Verlierer aus Franken. Wo steht es eigentlich in den Satzungen, dass der 1. FC Nürnberg alle paar Jahre ein Abonnement für das Endspiel hat? Tradition allein schießt keine Tore.

Vor dem eilig einberufenen Fußball-Schiedsgericht wird durch Abgleich der Magnetophonbänder des Nordwestdeutschen Rundfunks schließlich der Beweis erbracht, dass das Nürnberger Spiel tatsächlich nur vier Minuten vor dem Berliner Spiel, um 17:41 Uhr, endete. Die vermeintlichen 20 Minuten „absichtliche Verzögerung“, welche gespenstischen Horchposten am Telefon die Möglichkeit gegeben haben sollten, das Berliner Spiel fernzulenken und das Torverhältnis auf den erstaunlichen und entscheidenden 8:2-Wert zu erhöhen, wurden als Original-Phantasie-Produkte von Sammy Drexel festgenagelt.

Die Nürnberger sind bis auf die Knochen blamiert, ganz Fußball-Deutschland lacht über sie. Denn ist es den Nürnbergern nicht erst sieben Tage vorher selbst so ergangen, dass man 2:6 urplötzlich ins Hintertreffen geraten war,  fragen die Zeitgenossen mit Blick auf das in Münster ausgetragene Spiel vom 3. Juni, das der Club 6:4 verloren geben musste. Gerade die Nürnberger, ergänzt das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, hätten also wissen können, mit welchem verblüffenden Konditionswechsel die Preußen Torserien einzulegen vermögen, als sie die Glaubwürdigkeit eines 8:2-Resultates gegen Tennis-Borussia anzweifelten. Und den Berlinern wird immerhin zugutegehalten, durch die unglückliche Klasseneinteilung der Berliner Vertragsliga Sonntag für Sonntag, 33 Wochen lang, ein außerordentlich kräftezehrendes Programm absolviert zu haben.

Den Veilchen ist‘s kein Trost. Für die Lila-Weißen bleibt der 10. Juni 1951 ein rabenschwarzer Tag.

Weinte schon der Himmel nicht, so hatten dafür die Berliner ausgiebig Gelegenheit, Tränen zu vergießen.