Reichlich Pech, aber auch etwas Unvermögen

24. April 1927: TeBe vs. SpVg Fürth

Vivat, crescat, floreat Tennis-Borussiae! Samstag, 9. April 1927, Ort der Handlung ist zum ersten Male die neue Halle des Post-Stadions. Ganz im Geist der Gründerjahre begeht ein kleiner Kreis aus Spielern und Funktionären der ersten Stunde das inoffizielle 25jährige Jubiläum der Lila-Weißen. Die Umgangsformen, denen die Gründer sich verpflichtet fühlen, orientieren sich am Comment der studentischen Verbindungen des Jahres 1902, und so wird der Jubiläums-Bierabend wie ein Bier-Comment durchgeführt. Nachdem der offizielle Teil beendet ist, alle Reden geschwungen sind, Lebe! Wachse! Blühe, Tennis Borussia!, leitet Vereinsarzt Dr. Adolf Wisotzki die Fidulität, den gemütlichen Teil des Abends ein. Jack Karp berichtet vom fröhlichen Betrinken:

 Es etablierte sich ein Fuchsenstall unter dem altbewährten Majorat von Gesky. Reichlich schwang man die Humpen, denn der Präside ließ nichts ungeahndet und die Wogen seines Zorns spürte besonders der „Schmalzkopf“, der so manches Gläslein in den Wanst rinnen lassen musste. Herrlich hob sich die Stimmung und hatte einen schier nicht mehr zu steigernden Grad erreicht bei Beginn der Ursidulität. Dieses Präsidium übernahm kein geringerer als der älteste und zugleich der jüngste Tennis-Borusse, Herr Rudolf Wartenberg. (Im Geiste schon lange zu uns gehörig, trat er erst in dieser festlichen Stunde ofiziell dem Klub bei.) Das ist Temperament, was sich da entfaltete. Höher und höher brandeten die Wogen heiterster Ausgelassenheit, gehoben und gesenkt von der Macht des Präsiden, dessen Regie nicht zu übertreffen war. Er schmetterte seinen Rolandsbogen mit seiner schönen vollen Stimme in die Welt, dass alles begeistert lauschte und welch kühnes Unterfangen, mitten in der heitersten Stimmung führte er uns zurück aus der Ursidulität in das ernste Offizium und gedachte mit schönen Worten derer, die der Tod aus unserer Reihe in den Kriegsjahren gerissen. Vergangenes wurde Gegenwart. In alter Frische brachte Theo, welch eine Sensation, zuerst das Lied vom Pfarrer und dann erst die Hulda. Ullrich klemmte wie der fescheste Jarde-Offizier das Einglas ein und sang die Parade und Leo Karp war wie einstens die immer bewährte Hauskapelle bei allen Gesängen.

Zum Beispiel diesen Gesang nach der Melodie von Strömt herbei, Ihr Völkerscharen:

Auf Borussen, hebt die Augen,
Die Borussia leuchten macht,
Kampf auf Rasen soll uns taugen,
Dass zum Sieg die Sonne lacht.
Dich, Borussia, will ich achten,
Für Dich kämpfen froh und hehr,
:;: Dich zu fördern, will ich trachten,
In dem Streit um Deine Ehr‘ :;:

Die Augen der Tennis Borussen hatte der Sieg über Fortuna Leipzig sechs Tage zuvor, am 3. April zum Leuchten gebracht (1:0), nun steht morgen, Sonntag, 10. April, ein kurzfristig anberaumtes Testspiel gegen den VfB Pankow auf dem Programm, um einige neue Leute auszuprobieren (6:2). Ostern 1927 notieren sich die Borussen zwei prominent besetzte Repräsentativspiele im Kalender. Aus Prag kommt Union-Zizkow [sic!], die wohl am Ostersonntag das Spielfeld 6:0 verlassen (der genaue Termin ist leider nicht vermerkt), und aus Zürich die Young-Fellows, Ostermontag, den 18. April: 3 zu 1.

Am 24. April schließlich empfangen die Veilchen den amtierenden Deutschen Meister, die Spielvereinigung Fürth. Trainiert werden die Lila-Weißen von Spielertrainer Herberger, der die Geschäfte im Januar übergangsweise von Otto Nerz übernommen hatte. Und damit auch die Ehre, von den Spielen in den Club-Nachrichten zu berichten. Aber Student Herberger tut sich schwer. Grantelte Nerz, der nun die Reichself trainiert, dass es eine Pracht war, sind Seppls Spielberichte schroff bis an die Schmerzgrenze. Über die Begegnung mit den Fürthern schreibt er:

Der letzte Aprilsonntag brachte dann unsere große Probe gegen den derzeitigen Deutschen Meister, die Spielvereinigung Fürth. Seit Mitte Dezember waren wir ohne Niederlage, aber auch die Fürther sind allerbester Verfassung. Hatten sie doch vor wenigen Tagen den 1. FC Nürnberg mit 5:0 hineingelegt. Wieder trübte schlechtes Wetter die Veranstaltung, der Boden war schwer und glatt, lies aber so recht die Fähigkeiten des einzelnen Spielers erkennen. Die Fürther zeigten ein ganz großes Können. Jeder einzelne besitzt eine prachtvolle Ballbehandlung, Körperbeherrschung und die dazu gehörige Portion Taktik. Da gab es wieder einmal korrektes Stoppen mit allen Körperteilen, im Feld Stellungsspiel, Flügelwechsel und überlegten Pass, dass es eine Pracht war. Trotzdem auch unsere Mannschaft ihre Pflicht erfüllte und einige ganz große Kämpfer in ihren Reihen hatte, gelang es uns nicht, den Fürthern ein Paroli zu bieten. Bis zur Pause kam der Meister zweimal zu Toren, das erste Mal durch ein 35-Mtr.-Strafstoß, bei dem Seiderer famos täuschte und der in der Aussicht versperrte Patrzek den Ball nicht mehr halten konnte, und einen Elfmeterball wegen Hand von Schönherr. Über die Berechtigung beider Strafen lässt sich streiten, aber über die Möglichkeit, beide Tore zu verhindern, gibt es keinen Zweifel. Und beide Male war Patrzek unschuldig. Den vom Pfosten springenden Elfmeter mussten wachsame Feldspieler aus der Gefahrenzone befördern, so kam der Gegner zum Schuss.

Reichlich Pech, aber auch etwas Unvermögen, ließen jeden Torerfolg ausbleiben, Fürth dagegen kam in der zweiten Hälfte noch zu einem weiteren Tor. Mit 3:0 unterlagen wir unverdient hoch. Über 10.000 Zuschauer wohnten trotz zeitweilig strömenden Regens den von uns mit der Mannschaft:

Patrzek

Schönherr           Brunke

Schumann          Lux         Martwig

Gibat    Emmerich           Hoffmann          Herberger           Raue

begonnen Kampfe bei. In der zweiten Hälfte ersetzten wir Emmerich durch Schröder.

That’s all. Das Aufeinandertreffen mit dem Meister wäre von Nerz, einschließlich Vor- und Nachberichterstattung, nicht unter einer Doppelseite gewürdigt worden. Herberger hingegen widmet ihr einen ähnlich spärlich bemessenen Raum wie der Begegnung gegen den VfB Pankow. Einzelkritik entfällt beinahe vollständig, es sei denn der Spielertrainer findet etwas zu mäkeln. Lob gibt es nicht, bestenfalls die Feststellung, dass dieser oder jener seiner Mitspieler an diesem oder jenen Missgeschick unschuldig gewesen sei. Und beide Male war Patrzek unschuldig. Stattdessen gilt bei Herberger: der Star ist die Mannschaft.

Bei so viel Sprödigkeit muss ein anderer den Lesespaß besorgen. Aus der Jugendzeit des Sports. Wie die „Leibesübungen“ gefördert wurden, heißt der Artikel von Geschäftsführer Carl Koppehel, einem Mann ganz nach dem Geschmack Seppl Herbergers. Ein Mann, den selbst sein späterer Arbeitgeber, der Deutsche Fußball-Bund / DFB, ohne jegliche Schamesröte mit den Worten würdigen wird, es gibt Menschen, die Carl Koppehel einen „Diktator“ nennen. Wer ihn aus seiner aufopfernden Arbeit für den deutschen Fußballsport kennt, der weiß, dass er alle, aber auch wirklich alle Eigenschaften für einen guten Diktator hat: klares Urteil, Charakter und persönliche Uneigennützigkeit.

Vor gar nicht langer Zeit, schreibt Koppehel, griffen Polizei und Kirche strafend ein, wenn die sportliche Kleidung der Jugend beim fröhlichen Spiel den jugendlichen Gliedmaßen „allzuviel Licht“ gewährte. Aber der Sozialdemokrat Koppehel spottet nicht über die Doppelmoral und die Borniertheit solcher Auswüchse. Nein, befindet er, sie hatten Unrecht, denn sie übersahen dabei, dass der Sport schon seit Jahrzehnten seine Erziehungsarbeit neben der militärischen Dienstpflicht erfüllte, und dass er in seinem Bestreben, der Volksgesundheit dienen, alle Kreise und Schichten und alle Glieder des Volkes, also auch die von der Dienstpflicht Ausgeschlossenen, an sich zog. Der Sport und das Interesse für ihn wuchs in der Nachkriegszeit umso mehr, als man die Erfolge der englischen Truppen auf die Allgemeindurchbildung infolge der sportlichen Betätigung zurückführte. Wie immer, so lernten die Verantwortlichen unseres Volkes auch diesmal aus der Unbill, die unser Volksganzes betraf. Koppehel tritt nie der NSDAP bei, aber er wird das Jahr 1933 als den Durchbruch des Gedankens der Volksgemeinschaft zu schätzen wissen.

Sport im Dienste des Volksganzen, Sport im Dienste von Volkshygiene und Militär. Es überrascht nicht, dass auch bei Tennis Borussia die großen sportpolitischen Debatten in einem gewissen Rahmen geführt wurden. Diese Stellungnahmen zeigen vielmehr, wie groß der Spielraum war; zeigen, was noch geäußert werden konnte, ohne auf Widerspruch von Männern zu stoßen, die wie Alfred Lesser, Jack Karp, Adolf Wisotzki als Sportler, Funktionäre, Vereinsärzte und Vorstände viel zur Modernisierung und Liberalisierung des Fußballs in Deutschland beigetragen hatten. Auch dazu also, den Sport von der Indienstnahme für Volk und Vaterland zu befreien.