Am Sonntag, 19. Oktober 1924, kommt es auf der Pariser Buffalobahn zu einer denkwürdigen Begegnung. Erstmals nach dem ersten Weltkrieg treffen mit dem Pariser Club Français und der Berliner Tennis Borussia eine französische und eine deutsche Mannschaft aufeinander. Das Spiel war ein Politikum — und hoch umstritten. Auch dass die Wahl auf die Berliner Veilchen fiel, stieß nicht überall auf Gegenliebe. TeBe könne die deutsche Art nicht würdig vertreten, zürnten nationlistische Stimmen. Die TeBe Geschichten dokumentieren ein Fotoalbum von der Reise und den „Bericht eines Schlachtenbummlers“ aus der Feder von Dr. Jacques Karp in den Club-Nachrichten vom Berliner Tennis-Club „Borussia“ e. V., Nr. 11, 1924, S. 11 – 14.
Paris, Paris; sensationslüsterne Spannung bemächtigt sich aller Borussengemüter. Wer nur irgend kann, macht sich frei, um mit dabei zu sein, wenn die Erste dem Club Français gegenübertritt. Das Spiel ist mehr als nur ein Spiel, die Straße findet jenseits des Sportlichen eine wichtige Fortsetzung, die weit über den Rahmen des Clubs, des Sportes überhaupt von Bedeutung ist. Ist es doch das erste Spiel, das deutsche Fußballer seit langem in Paris austragen.
Freitag abend, den 17. d. Mts., sammelt sich eine große Gesellschaft in dem Wartesaal des Bahnhof Friedrichstraße, wir werden verfrachtet, auch Herr Krüger, der schon mit einem Bein wieder auf dem Heimwege war. Ein letzter Händedruck, eine letzte Umarmung, die berühmten letzten weisen Maßnahmen (ließ: Sitzes) und hinaus gehts, drei donnernde „hipp, hipp“, der Zug biegt um, kein Taschentuch ist mehr sichtbar, der letzte Seufzer der Erleichterung ertönt.
Im Schlafwagen fangen die berühmten Gruppenbildungen an, Herr Koppehel schaut vergnügt über die Brillengläser, die Cognacflasche beginnt zu kreisen, Dr. Braubach bekommt Hunger, und ehe man sichs versieht, ist der Zug in Brandenburg. Eine sportliche Abordnung begrüßt uns mit einem Cantus, sehr aufmerksam, wir danken! Onkelchen, mit seinem Arm in der Binde, wird von seinem Kindermädchen Geo ausgezogen, verzeihen Sie, meine Damen, und Adolf [Wisotzki], der Leibarzt, sorgt durch eine wohlgezielte Morphiumspritze für Onkelchens Schlaf. Bei der Mannschaft herrscht noch reges Leben und Treiben. All die schweren Fußballsorgen werden ausgetauscht, Weinerts zartes Piano bricht sich Bahn, man hört so dieses und jenes, schließlich wünscht man sich auch hier gute Nacht.
Adolf hat scheinbar nicht genug gespritzt, denn von 4 Uhr ab stört Onkelchen Nachbars Ruh, aber schließlich müssen wir alle ja mal aufstehen. Die Damen sind mit zuerst auf der Bildfläche, guten Morgen, guten Morgen, noch einmal etwas Puder aufs Gesicht und man ist in Köln. In überaus liebenswürdiger Weise hat Dr. Bauwens uns einen Wagen reservieren lassen, herzlich sei ihm an dieser Stelle dafür gedankt. Alles wird gut verstaut und weiter gehts. Die Skatgruppen beginnen zu arbeiten, Bertel zieht mit dem kleinen Grammophon von Abteil zu Abteil, der eine bringt Schokolade, der andere saure Bonbons. Alfred Lesser bedenkt mit Zigarren. Allmählich füllt sich der Wagen auch mit belgischen Reisenden, Zollkontrollen werden siegreich überwunden. Wir fahren an den wunderschönen Ufern der breiten Maas entlan. Die Sonne vergoldet mit ihren Strahlen das herbstlicg gelbe Laub der Bäume, grüne Nadelwälder streben hinan und weiter führt uns die Fahrt zur Sambre, an Kohlen- und Stahlbergwerken über St. Quentin näher und näher zur Seine. Wie gut, dass die fürsorglichen Angehörigen ans Präpeln gedacht haben, denn wir haben keinen Speisewagen und allmählich tröstet man sich durch alle möglichen Hilfsmittel über das leichte Kitzeln in der Magengegend hinweg. Aute [Weber] beschummelt Ulrich [Rüdiger] bei 17 und 4, Bertel lacht sich tot, wie man dem ahnungslos lesenden Jacques Karp die zuviel genommenen Karten ins Buch schiebt. Heinemann streicht sich die kurz geschorenen Haare und Dr. Martin bedauert, dass trotz eifrigen Zuredens kein Skat mehr zustandekommt. Die Damen, die sich zuförderst getrennt ganz wohlgefühlt haben, sitzen plötzlich alle zusammen. Irgend ein Philosoph stellt fest, dass diese Kombination nicht die schlechteste sei. Die Vororte von Paris tauchen auf, man macht sich fertig, ein kurzes Rucken, Paris Gare du Nord. Man beginnt zu schauen, zu betrachten, schiebt sich vorwärts in der Menschenmenge und geführt von unserem schweigsamen Cicerone Naas landen wir nach der Passage der Sperre bei unseren Gastgebern. Ein großer Autobus (Carussel de Fromage, nach Frau Dr. Braubach) erwartet uns und bringt uns ins Hotel Moderne. Die Zimmer sind sehr ordentlich. Baden, waschen, umziehen, rasieren ist schnell erledigt, denn der Magen treibt uns möglichst eilig in den Speisesaal. Das Essen war sehr diskret, böse Zungen behaupten, nur mit Hilfe eines Vergrößerungsglases hätte man es sehen können, dafür war der Wein umso besser. Ein ausgedehnter Spaziergang führt uns in die verschiedenen Teile der Hauptstadt. Die einzelnen Entdeckungsreisen sollen die mannigfaltigsten Ergebnisse gehabt haben. Ich bin zum Schweigen verpflichtet. Immerhin war es mir interessant festzustellen, dass der Berichterstatter des Rasensports seine Eindrücke nicht nur auf dem Sportplatz, sondern auch auf dem Montmartre sammelt. Sonntag lachender Sonnenschein, reges Treiben, auch Hans Reiff ist schon aufgestanden, man verteilt sich auf die Stadt. Herr Nerz ist aus London gelandet und nimmt die Mannschaft unter seine Fittiche. Wir Bummler gondeln inzwischen umher, tauchen unter in dem unübersehbaren Autogewimmel der Boulevards und der Champs Elysees. Dem Louvre wird ein kurzer Besuch abgestattet, durch die besonders interessierenden italienischen Säle (La Gioconda lächelt uns zu) vorüber an den Titians, Raphaels, Caravacci, Tiepolo zu den spanischen Gemälden, Greco, bei dem ich zu frösteln anfange, Ribera, Murillo, Belasquez, zu den Holländern, sehr schöne Rembrands, wenngleich nicht die berühmtesten, Franz Hals‘ wonnige Bohemienne, starke Schöpfungen von Rubens, der große Medicisaal, einige Van Dyks, dann zurück zu den französischen Meistern Prudhon, dem farbigen Delacroix, Lebrun, Boucher, Watteau, Ingres, Mement, Frau Tutt [Lesser], wir kommen schon. Es war nur erstmal ein Orientierungsbesuch.
Im Hotel ist Alfred schon reichlich nervös, „nur der Zoff soll gut sein“, glaubt man zu hören, alle Mann an Bord und ab führt uns der Autobus zur Buffalobahn. Die anfangs noch leeren Tribünen füllen sich, wir machen unter der Halle eine verborgene Ehrenrunde von einer guten Viertelstunde, bis Mr. Cochin uns auf die Plätze geführt hat. Neben mir die offiziellen Vertreter Herr Dr. Martin und Herr Koppehel, hinter mir neben unserem Jüngsten, Onkelchen Ansbach, kein geringerer als Paul Block vom Berliner Tageblatt. Auch die Deutsche Botschaft war vertreten. Das Spiel war Sieg! In der Brasserie Zimmer fanden sich die Kämpen mit ihren Anhängern und den Damen unter dem Vorsitz des Herrn Del’arbre zum Bankett zusammen. Mit sehr herzlichen Worten begrüßte uns der Vorsitzende und gab seiner nicht geringen Freude über die so begonnene Annäherung der beiden Völker Ausdruck. Bedeutsam verfocht er den internationalen Gedanken des Völkerfriedens. Mit großem Enthusiasmus begrüßten wir das Versprechen des Herren Del’arbre, sich für die Freigabe der Sportplätze im Ruhrgebiet einzusetzen. Herr Rüdiger dankte als Vorsitzender des Clubs für die Einladung und den herzlichen Empfang. Der Präsident des Clubs Mr. Bernart, Dr. Martin als Vertreter des DFB, Dr. Braubach und Herr Naas sprachen noch im Verlaufe des Abends. Herzlich drückte man sich beim Auseinandergehen die Hände, der Abend war inhaltsreich und bedeutungsvoll und wird uns allen eine unvergessliche Erinnerung bleiben. Hoffentlich fehlt nicht die Macht durchzuführen, was impulsiv versprochene Worte uns verheißen. Wir kamen nach dem Bankett zu dem eigentlichen Abendprogramm. Der Montmartre wurde unsicher gemacht, von la Junie über den Rat Mort spannte sich ein buntfarbiger Regenbogen der Freude bis in die Rue Cha, Cha, Cha … scheußlich, man vergisst die Namen zu leicht. Am Montag Morgen glitt beim Frühstückstisch über aller Gesichter ein Augurenlächeln. Der Kavlier genießt und schweigt! Morgenspaziergang und im Anschluss Rundfahrt durch Paris. Nôtre Dame de Paris, eine interessante Mischung des romanischen und gotischen Stils, mit herrlichen alten Rosetten aus dem Beginn des 15. Jahrhunderts, wundervollen Altären, der schönsten Marmorgruppe der heiligen Jungfrau Maria, wir verweilen lange im Innern, um all das Schöne voll aufzunehmen. Weiter vorüber an der Sorbonne, l’Ecole de Droit mit der herrlichen alten Uhr, den langen Straßenzügen folgend, der Vendômesäule mit der Statue des großen Napoleon, Arc de Triomphe mit dem Grab des soldat inconnu, Champs Elysee, Tour d’Eiffel, Trocadero, Montmartre, Sacré Coeur, zurück zu den Boulevards in das große Warenhaus Lafayette. Der Tag verrinnt, die Stunde der Henkersmahlzeit naht, traurig sehen die Bräute auf die kurzen, aber doch so lieb gewordenen Freunde. Wir gehen schon voraus, Plätze reservieren zu lassen, Aute drängt und bald ist alles wohl verstaut im Zuge. Schönherr kann sich noch immer nicht trennen, noch einen Kuss, mal nach rechts, mal nach links — was heißt hier Weihnachtsbaum –, die anderen schauen neidisch aus dem Zuge. Die Herren vom Club Français sind zahlreich vertreten, Herr Naas, die Presse begleitet zum Zuge. Herr Koppehels rotweiße Jacke tritt wieder in Funktion, Aute erinnert an die Nougatstangen, alles einsteigen, ein letztes Händedrücken, gute Reise und keuchend verlässt der Warschauer Express die Halle. Manch Tränlein seh ich rinnen, der Zahn der Zeit wird heilen. Der Wein tröstet uns über die ersten Augenblicke hinweg, man denkt gern zurück an das Spiel, an das Bankett, an die Stadt und allmählich kommt Morpheus zu seinem Rechte. Nur Weinert fühlt sich verpflichtet, durch Selbstgespräche die müden Zuschauer zu unterhalten, bis Lux ihn und Gläser mit einigen freundlichen Knockouts zur Ruhe bringt.
Die Rückreise vergeht schnell. Bald sind wir in der Nähe von Berlin, die 24 Stunden sind uns wie im Fluge vergangen. Am Bahnhof Friedrichstraße erwartet und eine etwa 60 Mann starke Abordnung des Clubs, geführt von Rieke Böhme und Theo Sachs. Wir werden herzlichst beglückwünscht, geschlossen gehts zu Klinnerts, wo ein festlich gedeckter Tisch unser harrt. Herzliche Worte findet Richard Böhme mit seinen 5 Punkten für die Ankommenden, Lux und Patschek[sic!] werden wie die Filmdiven mit Blumen empfangen, Herr Salinger, der älteste Speiler und jüngste Borusse, weilt unter den Gratulanten. Manch Gläslein wird auf das Wohl des Clubs geleert. Dank allen, die in so hervorragender Weise für Borussias Ruhm gewirkt.
Dr. J. Karp