Mutmaßungen über Tennis

Die -Meisterschaft 1931/32

Aber Tennis ist immer als Zweiter über die Gerade gegangen.

Von 1925 an gelingt den Lila-Weißen drei Jahre lang nur die Vizeabteilungsmeisterschaft, 1925 hinter Alemannia, und 1926 und 1927 hatten die Veilchen das Pech, in der zweigleisigen Berliner Oberliga in einer Abteilung mit Hertha  BSC anzutreten. Anders in den Folgejahren, in denen TeBe auch prompt jeweils souverän Abteilungsmeister wird.

In den Finals um die Berliner Meisterschaft treten die Abteilungsmeister gegeneinander an. Für die Veilchen enden diese Spiele 1927/28 als Zweiter. 1928/29: Zweiter. 1929/30: Zweiter. 1930/31 wird der Modus geändert, es spielen nun die beiden Abteilungsmeister, der Berliner Pokalsieger und der Pommersche Meister um die VBB-Meisterschaft. Ergebnis für die Lila-Weißen: Zweiter. Fünf Jahre Kampf gegen Hertha um die Vorherrschaft im Berliner Fußball. Fünf Jahre setzt es in den entscheidenden Spielen gegen die Konkurrenten aus dem Wedding Niederlagen.

Fünf Jahre: Zweiter.

Nun aber. In einer bis zuletzt packenden Spielzeit 1931/32 erringt TeBe die Abteilungsmeisterschaft. Aber die Veilchen hatten sich bereits am zweiten Weihnachtsfeiertag für die Teilnahme in der Endrunde um die VBB-Meisterschaft qualifiziert, nachdem Wacker im Pokalfinale 6:0 deklassiert werden konnte. In der Endrunde stehen Minerva 93, der Stettiner SC und Tennis als Abteilungsmeister und Pokalsieger.

In vier Spielen ungeschlagen werden die Lila-Weißen endlich, endlich VBB-Meister. Ausrufezeichen! Ausrufezeichen?

In all den Jahren zuvor waren die Spiele um die Meisterschaft in aller Ausführlichkeit von den Club-Nachrichten gewürdigt worden. Vorberichterstattung, seitenlange Spielberichte, ausführliche Zitate aus der Presse, Nachberichterstattung einschließlich der gesellschaftlichen Umstände, also Anekdotisches  rund um An- und Abreise, Bewirtung und das Miteinander mit den gegnerischen Vereinen vor und nach den Spielen sowie Berichte über die Feierlichkeiten des Vereins. Texte, die über zwei, drei Ausgaben stets mehrere Seiten der Vereinszeitschrift füllen.

Und im Frühjahr 1932? Der größte Erfolg der Vereinsgeschichte wird in Ausgabe 5 & 6, 1932, vom Vorsitzenden Dr. Otto Kuttner mit sechs Sätzen gerade einmal annotiert. Und die Spielberichte von Cheftrainer Herberger? Ein ansonsten belangloses Freundschaftsspiel gegen Hertha vom 9.4. wird von ihm immerhin auf rund einer dreiviertel Seite gewürdigt; die erste Meisterschaftsbegegnung gegen Minerva ist ihm hingegen mit ganzen sieben Sätzen (einschließlich der Aufstellung!) nicht einmal ein Fünftel des Raumes wert, das erste Aufeinandertreffen mit dem Stettiner SC nicht einen einzigen Satz.

Diese disparate Berichterstattung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Denn kaum kann der Verlauf der VBB-Meisterschaft 1931/32 auf dieser Grundlage auch nur annähernd befriedigend geklärt werden. Liegt es an der notorischen Schreibfaulheit von Sepp Herberger, dessen Berichtswesen während seiner Zeit als Trainer bei Tennis Borussia mit dem Adjektiv „spröde“ nicht einmal euphemistisch umschrieben wäre? Wohl kaum. Die Tennis Borussen konnten auf eine breite Basis an Stammautoren im unmittelbaren Umfeld zurückgreifen, deren ausführlichen und teilweise überaus blumigen Texte wie in kaum einem anderen Verein dieser Tage das sportliche und soziale Leben der Veilchen fassbar machen. Vereinsgründer Lesser etwa, Wisotzki, und der amtierende 2. Vorsitzende Jacques , um nur einige zu nennen. Daneben tummelte sich im weiteren Vereinsumfeld eine Reihe an Edelfedern, auf deren schreibfreudige Unterstützung die Club-Nachrichten gerne und regelmäßig zurückgriffen. Reichstrainer Otto Nerz beispielsweise oder der Journalist und DFB-Funktionär Carl Koppehel griffen auch nach ihrer aktiven Zeit bei Tennis Borussia immer wieder zum lila-weißen Bleistift.

In der Weimarer Republik macht sich seit geraumer Zeit düsterste Endzeitstimmung breit. Täglich berichtet (nicht nur) die bürgerliche Presse von den gewalttätigen Angriffen auf alle, die den Nazis gegen den Strich gehen. Kaum vergeht ein Tag in diesem Frühjahr 1932, an dem etwa die Berliner Morgenpost nicht mit einem Anti-Nazi-Titel aufmacht. Aber nicht nur der Titel, das gesamte Blatt muss sich tagein, tagaus mit den großen politischen Frontstellungen beschäftigen. Von den Lügen der , berichtet eine eigene Rubrik, und stets müssen aufs Neue Gewalttaten vermeldet werden. Am Donnerstag, den 15. April, drei Tage vor der zweiten Begegnung der Tennis Borussia mit Minerva, berichten die Zeitungen über das Verbot der SA, erlassen von Brüning wegen bürgerkriegsähnlicher Zustände. Und der Titel der gleichen Ausgabe der Morgenpost, in der die Berichterstattung zur letzten Meisterschaftsbegegnung zu finden ist, beschäftigt sich mit einem feigen Angriff auf den sozialdemokratischen Abgeordneten Otto Wels und den Kölner Polizeipräsidenten Bauknecht, verübt vom späteren Reichsleiter der NSDAP und Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF) Robert Ley.

Ein tiefer Riss geht durch die instabile Republik, und die Auseinandersetzung findet ihren Niederschlag auch bei Tennis Borussia. Im Sport wird seit einem Jahrzehnt um die Frage nach dem Profitum gerungen, „Kommerzfußball“, würde man heute vielleicht sagen. Es ist keine Auseinandersetzung pro oder contra , aber es ist ein Streit um die Rolle des Sports innerhalb der Gesellschaft – und damit um die Vorstellung über Gesellschaft und Nation schlechthin. Schon Anfang 1930 hatten sich die beiden Funktionäre Otto Kuttner und Georg Michaelis tief zerworfen. Die Auseinandersetzung um den bezahlten Sport wird bei TeBe durch die notorische Erfolglosigkeit im entscheidenden Moment verschärft. Die Rolle der Tennis Borussen als ewige Zweite zehrt an den Nerven, und damit steht seit geraumer Zeit die Frage auf der Tagesordnung, ob und wie dem Erfolg auf die Sprünge geholfen werden kann, ohne die Ideale des Sports oder des Deutschtums zu verraten. Aufgabe des Sportes sei es, schreibt unmittelbar im Vorfeld der Spiele um die VBB-Meisterschaft im März / April 1932 der Vorsitzende Kuttner in seinen Jubiläumsbetrachtungen zum 30jährigen – Aufgabe des Sports sei es also, die Jugend zu gefestigten und wohldisziplinierten Männern zu erziehen und so einen Beitrag zum Aufstieg und Wiedererwachen unseres teuren Vaterlandes zu leisten. Solche Auffassungen, die vehement auf Disziplin  und Unterordnung im Dienste des Volkes setzen, stehen im Widerspruch zur Orientierung an familiären Leitbildern und freundschaftlicher Verbundenheit im Club, denen sich andere Borussen verpflichtet fühlen. Die Borussen-Familie solle ihre Jugend zum Ausgleich von Gegensätzen erziehen, heißt es etwa 1925. Kampf und Ehrgeiz sind Eigenschaften eines tüchtigen Sportmannes. Diese sollen wir aber nicht zu missbräuchlichen Dingen ausnützen. In die Jugend die Saat des Hasses zu streuen, ist der größte Verrat, den man an ihr ausübt. Ein Text aus der Feder von Ernst Roßkopf, der um 1910 in der 1. Herren auflief, forderte 1928 strenge politische (und konfessionelle) Neutralität. Auch soll ein Sportsverein vernünftigerweise nicht fanatisch national geführt werden. Internationale Beziehungen, mit Würde gepflegt, vermitteln die verschiedenen Kulturen, fördern das gegenseitige Völkerverstehen und damit den notwendigen Völkerfrieden. Beide Seiten konnten sich auf die Formel einigen, nach der die Jugend die Zukunft des Vaterlands sei, die auch in den bürgerlichen Milieus zum guten Ton gehörte. Aber spätestens die Forderung von 1925, der Vereinsjugend sei Gelegenheit zu geben, sich im parlamentarischen Sprachgebrauch zu üben, ist nicht mehr in Einklang zu bringen mit jener vom November 1931 (wohl aus der Feder des Cheftrainers Herberger), sich unterzuordnen unter den Willen eines Einzelnen, des Führers (Hervorhebung im Original). Sport könne dazu erziehen, die Persönlichkeit schweigend zurücktreten zu lassen hinter den Gedanken der Gemeinschaft und sich im Dienste großer Ideen unterzuordnen. Das ist die Disziplin des Lebens, die wir im Sport sehr wohl erlernen können. Michaelis und Kuttner rauften sich wieder zusammen, beide überlebten den Nazi-Terror in der Emigration. So illustriert der Streit um die (sport)politisch-ideologische Ausrichtung des Vereins und die Rolle des Sports, der vor dem eskalierenden politischen Zeitgeschehen Anfang der 1930er Jahre nur umso heftiger ausgetragen wurde, die Tragik des Bürgertums in Deutschland. Die eine Seite fühlte sich Toleranz, Völkerverständigung und republikanischen Werten verbunden, glaubte aber, mit der Verpflichtung auf politische Neutralität dem erzieherischen Auftrag Genüge zu tun. Die andere Seite vermochte das terroristische Potential der Forderung nicht zu erkennen, nach der die Persönlichkeit sich in der Gemeinschaft gleichsam aufzulösen und unter den Willen eines Einzelnen unterzuordnen habe.

Profisport zerstöre die Gemeinschaft, indem er durch seine Orientierung an Materialismus und Egoismus ihre Ideale vergifte, war seit Jahren das Credo der Verfechter vom Amateursport. Diese Vorstellung erhielt durch die auch 1932 ungebrochen anhaltenden Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929 zusätzlich Brisanz. Unter den 24.800 Zuschauern, die während der VBB-Meisterschaft das Auftaktspiel der Veilchen gegen Minerva 93 sehen wollten, waren 1.000 Schüler auf Freikarten, weitere 4.000 Schüler kamen mit verbilligten Karten auf den Herthaplatz, und 11.000 Erwerbslose erwarben ebenfalls verbilligte Tickets. Neben den Mitgliedsbeiträgen, die aber bei einem kleinen Verein wie Tennis Borussia tendenziell marginal waren (403 Mitglieder im November 1927), gehörten die Zuschauereinnahmen zu den zentralen Einnahmequellen der Sportvereine. Sanken sie, rührte das rasch an der Existenz der Vereine. Ein Tiefpunkt in der Vereinsgeschichte war die Saison 1921/22, als die Erste Herren erstmals seit 1914 aus der höchsten Berliner Spielklasse abgestiegen waren. Zwar gelang unmittelbar in der nächsten Saison der Wiederaufstieg, aber das Jahr 1923 bescherte mit seiner Hyperinflation der Weimarer Republik zugleich eine unerhörte Wirtschaftskrise, deren Folgen die Sportvereine noch einige Jahre beschäftigen sollten. Von den 209 erwachsenen Mitgliedern Ende 1923 waren rund 80 Mitglieder erst seit 1922 im Verein, und allein 1923 standen dem 100 Austritte gegenüber. Davon war die Hälfte wegen wiederholt ausbleibender Mitgliedsbeiträge ausgeschlossen worden. Im letzten Quartal 1923 konnten gar nur zehn Mitglieder ihren Beitrag in Höhe von 1,50 RM aufbringen, in der ganzen Saison 1924/25 kamen nicht einmal 5 % der Mitglieder ihren finanziellen Verpflichtungen nach. Mitgliedern, die durch Arbeitslosigkeit nicht zahlen konnten, wurde in der Regel der Beitrag gestundet.

Anfang Januar 1925 war für den Verein ein Rekordtief erreicht (150 erwachsene Mitglieder, 100 jugendliche). Selbst in wirtschaftlich ruhigerem Fahrwasser änderte sich der starke Austausch kaum: So waren etwa von 58 Herren, die 1924 ihren Eintritt erklärt hatten, nur noch 21 in der Mitgliederlisteliste von 1927 vertreten. Das lag auch an der Arbeitslosigkeit, von der auch die Mitglieder der Tennis Borussia stark betroffen waren. In den Clubnachrichten kam es daher zu vielen Solidaritätsaufrufen, so 1926:

Vereinskameraden! Denkt bei Bedarf an Arbeitskräften zuerst an die arbeitslosen Vereinsmitglieder. Vermittlung übernimmt gern die Vereinsgeschäftsstelle, bei der auch erwerbslose Klubmitglieder vertrauensvoll nachfragen können. Der Vereinsvorstand.

In diesen unruhigen Fahrwassern entwickeln die Verantwortlichen eine Strategie, die sich bald als Erfolgskurs erweist. Sportlich lockt man eine Reihe an erfahrenen Spielern aus dem ganzen Land nach Berlin, Herrmann Lux etwa, der sportliche Meriten bei Union 08 Kiel gesammelt hatte und um den auch die Unioner aus Oberschöneweide buhlten, Otto Martwig, der von Schwaben Augsburg ebenfalls über Union Oberschöneweide bei den Veilchen zu voller Blüte trieb, Albert Eschenlohr (u. a. Bayern München) oder Konrad Patrzek, der beste Torwart, den wir je hatten (Otto Wiese). Ein Vereins-, vor allem aber ein Ortswechsel stellt die Spieler vor einen gravierenden Einschnitt. Gelingt es am neuen Wohnort das täglich Brot zu verdienen, wo doch die galoppierende Geldentwertung und Arbeitslosigkeit allgegenwärtig sind? Wie schwierig die Entscheidung ist, zeigt das Beispiel Otto Martwigs. Er – von Beruf Kaufmann – findet 1924 über Union Oberschönweide von Schwaben Augsburg seinen Weg zu TeBe, tritt kurz nach seinem Eintritt wieder aus, um wiederum wenige Wochen danach bei TeBe seine Mitgliedschaft zu erklären. Gelderwerb durch den Sport ist nicht nur offiziell verboten. Denn die hoch ideologisierte Debatte um den unantastbaren Amateurstatus stellt alle Beteiligten aus den Vereinen und die Sportler vor ein Dilemma. Ist es moralisch vertretbar, das Verbot zu verwässern? Die Verantwortlichen bei den Veilchen wissen: sportlich attraktive Spieler gewinnt man nur, wenn sie in allen Fragen die volle Unterstützung durch den Verein erhalten, und so finden eine Reihe namhafter Spieler einen Lebensunterhalt bei wohlhabenden Mitgliedern des Clubs. Allen voran Sepp Herberger, der eine Anstellung im Bankhaus von Georg Michaelis und Max Berglas erhalten hatte. Zugleich bieten die Lila-Weißen ein in Fußballdeutschland wohl einmaliges Umfeld. Trainiert werden die Veilchen auf der Höhe der sportwissenschaftlichen Erkenntnis von professionellen Trainern aus dem Umfeld der Deutschen Hochschule für Leibesübungen, es gibt zwei Vereinsärzte, ein Propagandaausschuss besorgt  die Öffentlichkeitsarbeit und alles läuft in den Händen eines bezahlten Geschäftsführers zusammen (sein Gehalt erhielt er nach heftigen internen Debatten aus der Privatschatulle vom Vereinsgründer Lesser und dem Bankier Ernst Salinger). Das aber ist das verkappte Berufsspielertum, für das Seppl bereits 1921 während seiner Zeit beim VfR Mannheim vom Süddeutschen Fußballverband ausgesperrt worden war. Der Druck, der auf den Spielern und Entscheidungsträgern lastet, ist groß, denn einen Sturm der Entrüstung erntet so sicher wie das Amen in der Kirche, wer als (Semi-)Profi geoutet wird. Mit beißendem Sarkasmus kommentiert Willi Braubach in der Festschrift zum 25jährigen Jubiläum die belastende Situation. Möglichst viel Vereine mit möglichst wenig Mitgliedern und möglichst hohen Schulden ist hier der Grundsatz der Verfechter des Amateurgedankens, allen voran des DFB.

Leistungstträger aus der Vereinsjugend: Heini Schmidt.

Leistungstträger aus der Vereinsjugend: Heini Schmidt. Foto: unbekannt; Sammlung Buschbom.

Die sportlich hoch entwickelten Strukturen tragen auch bei der Ausbildung der Jugend Früchte, die sich rasch zur zweiten Säule für die Rekrutierung herausragender Fußballer entwickelt. Hanne Brunke, Heinz Emmerich, der kleene Uli Klaaß, Heini Schmidt, die Brüder Raue, Hanne Schröder, Viktor Katzer – dass aus dem Nachwuchs so gute Spieler in unserer Mannschaft standen, gab uns ja die Gewissheit, dass trotz mancher Enttäuschung mit der Pflege der Jugend doch der richtige Weg gegeben war. Und es ist uns aus dem Beibehalten dieses Grundsatzes auch späterhin noch viel Freude geworden!

Wirtschaftlich sind die Vereine existentiell auf die Zuschauereinnahmen angewiesen, und so entwickeln die Veilchen in Krisenzeiten schon früh eine Überlebensstrategie, die auf das launische Interesse des Berliner Publikums zielt. Dank einer Reihe an wohlhabenden Mitgliedern und Funktionären mit besten Verbindungen gelingt es, beginnend mit der Wiener Hakoah im April 1924, einige der bekanntesten deutschen und internationalen Clubs für Freundschaftsspiele nach Berlin zu locken. In der spielfreien Zeit setzt eine rege Reisetätigkeit von und nach Berlin ein, verstärkt immer dann, wenn dem Verein finanziell das Wasser zum Hals steht. Strukturen für Fußball auf höchstem Niveau zu schaffen, schielt daher nicht allein auf das Interesse der Fans, sondern ist die Voraussetzung dafür, gegen Mannschaften wie Hakoah Wien, Cardiff City, Corinthians FC, 1. FC Nürnberg, VfB Leipzig, HSV und viele andere mehr antreten zu dürfen. Die Prominenz der Gegner wiederum ist ein verlässlicher Zuschauermagnet, sportlicher und wirtschaftlicher Erfolg gehen Hand in Hand.

Dass die Veilchen im Frühjahr 1932 wirtschaftlich die Köpfe hängen lassen, kann daher verlässlich am Reiseprogramm abgelesen werden. Seit Beginn der Saison 1931/32 treffen die Lila-Weißen außerhalb des regulären Ligabetriebs auf Slavia Prag (9.8.31), Real Madrid (29.8.31),  VfB Sportfreunde-Leipzig (11.10.31), 1860 München (18.11.31), Újpest Budapest (10.01.32), Holstein-Kiel (13.3.32), 1860 München (Jubiläums-Turnier, 26.3.32), Eintracht Frankfurt (Jubiläums-Turnier, 27.3.32), Fortuna Magdeburg (28.3.32), Hertha BSC (9.4.32), VfB Stuttgart (1.5.32) sowie 1860 München am 2. Mai. Schon am 8. Mai trifft der frisch gebackene VBB-Meister gegen Stolp in der Deutschen Meisterschaft den Ball (3:0 für die Borussen).

In der gesamten Zeit zwischen dem 1. August 1931 und dem letzten Spiel um die Deutsche Meisterschaft (am 25. Mai 1932 gegen Fortuna Düsseldorf) hatte die Mannschaft sage und schreibe ganze zwei spielfreie Wochenenden gehabt (Samstag und Sonntag, 12. und 13. September 1931, sowie 2. und 3. Januar 1932), im Verlauf von insgesamt elf Wochen hatten die Ersten Herren hingegen je zweimal gegen den Ball treten müssen, nicht selten an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Am Wochenende 26. und 27. März absolvieren die Veilchen beispielsweise das Turnier zum 30jährigen Clubjubiläum, in dessen Verlauf sie auf 1860 München und die Frankfurter Eintracht treffen. Schon am folgenden Montag, den 28. März, sitzt die Mannschaft im Zug nach Magdeburg, um ein Gesellschaftsspiel gegen die Fortuna Magdeburg auszutragen. Und bereits am nächsten Sonntag, den 3. April, reisen die Lila-Weißen nach Stettin zu ihrem richtungsweisenden zweiten Spiel um die VBB-Meisterschaft. Zu solch stramm gezurrten Programm kommt die Belastung durch so genannte Repräsentativspiele, also Spiele der Nationalmannschaft und vor allem der Berliner Auswahl; an sechs Spielen der Stadtmannschaft in diesem Zeitraum, die zusätzlich zum normalen Programm zu absolvieren sind, wirken zwölfmal Tennis Borussen mit. Doch es wird nicht nur gespielt. Trainiert werden die Borussen dienstags und donnerstags ab 18:00 Uhr, seit Januar 1932 ab 17:00 Uhr im Poststadion. Trainer Herberger gilt wie sein Mentor und Vorgänger bei den Veilchen, Otto Nerz, als humorloser Schleifer, der insbesondere von den jungen Spielern gefürchtet wird. Und dann, meine Herre, laafe! Laafe müsset sie! Und auf den freie Raum spiele, ins Loch nei spiele! Früh hatte Herberger den Tonfall und Habitus des Reichstrainers verinnerlicht. Fußball is koi Schildwach, Fußball is ein Bewegungsspiel.

Ein Riss geht durch die Tennis Borussia. Ihre liberalen Mitglieder, Mäzene und Funktionäre, die Anfang, Mitte der die Weichen für den sportlichen Erfolg entscheidend gestellt hatten, stehen dem Kasernenhofton der sportlichen Funktionsträger gegenüber mit ihren völkisch inspirierten Vorstellungen von der Rolle des Sports für Volk und Vaterland. Diese Auseinandersetzung ist eingebettet in die ideologischen Debatten in der Weimarer Republik der frühen 1930er Jahre, verschärft wird sie durch die wirtschaftlich raue See, in der sich der Club seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 befindet. Das Schlimmste abzuwenden, heißt Maßnahmen zu ergreifen, die jenen ein Dorn im Auge sind. Es ist eine Gratwanderung. Will man sportlich erfolgreich sein, um den Verein wirtschaftlich solide aufzustellen, müssen Verpflichtungen eingegangen werden, deren Höhe in gar keinem Verhältnis zur finanziellen Leistungsfähigkeit der Vereine steht, wie Willi Braubach bereits 1927 geklagt hatte. Wir leben heute in einer Zeit, in der so viel von Rationalisierung gesprochen wird. Der Sportbewegung sind derartige Gedankengänge vollkommen fremd geblieben. Rationalisierung ist im Sport als Profitum verpönt, Rationalisierung gilt als Ausverkauf der Seele des deutschen Fußballs. Der Hass fokussiert sich aufs Zerrbild vom Berufsfußballer; er gilt im Sportbetrieb als der Vaterlandsverräter schlechthin. Zugleich diktiert das wirtschaftliche Prekariat, unter dem der Club und seine Mitglieder leben, den Sportlern ein gewaltiges Pensum. An Arbeit nebenher ist da kaum zu denken. Wer so lebt, richtet sein Leben am Fußball aus: Der verhasste moderne Fußball ist auch ein Ergebnis der wirtschaftlichen Not.

Mutmaßungen über Tennis Borussia. Die Lila-Weißen sind im Frühjahr 1932 zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich allzu sehr über den größten Erfolg ihrer Vereinsgeschichte freuen zu können. Hatte man die Brüche zuvor mit dem Verweis auf Freundschaft und Borussenfamilie, auf innere Verbundenheit und familiäre Verantwortlichkeit übertünchen können, ist der Ton nun schärfer geworden, die Nerven liegen blank. Ein Artikel in den Club-Nachrichten Nr. 3 / 4, 1932 appelliert noch einmal an die alten, liberalen Borussen-Tugenden. Jugend in Not!, klagt der Text, und wie nebenbei berichtet er davon, dass dem Club finanziell das Wasser zum Hals steht. Die Zeitläufe diktieren den Finanzgewaltigen erhebliche Sparmaßnahmen, aber Vereine, die angesichts der Nöte der Zeit sich mit dem Gedanken tragen, den Jugendbetrieb ganz systematisch einzuschränken, schaufeln sich selbst und darüber hinaus unserem Sport langsam, aber umso sicherer, das Grab. Denn:

In der Bilanz, in der ideellen Bilanz eines Sportklubs gehört die Jugend, die den nun einmal nicht zu entbehrenden Nachwuchs stellt, auf die Seite der Aktiven. In unserer Zeit der Wirtschaftsprobleme ist dies der einzige Aktivposten, den keine „Notverordnungsmaßnahme“ und keine „Kapitalzusammenlegungen“ in seinem Werte herabmindern können. Wir haben also die doppelte Pflicht, uns diesem Wertposten mit besonderer Liebe und Sorgfalt zu widmen und dürfen uns in keiner Weise zu Maßnahmen verleiten lassen, die den Ertrag schmälern oder mindern können.

Neben  dem Geld für den Jugendbetrieb fehle es besonders an ehrenamtlichem Engagement in den Jugendabteilungen, und es sind jene, die im kulturpessimistischen Duktus die Wurzellosigkeit und den Wandertrieb (den Vereinswechsel also) bei der Jugend beklagen, die es besonders an Einsatz für den Nachwuchs vermissen lassen. Denn ihre Klage über fehlende Ideale der Jungen gerät ihnen unter der Hand zur Begründung, sich nicht einsetzen zu müssen: sie ist es nicht wert, diese Jugend, die es an Disziplin und Tugend vermissen lässt. Um Ordnung und Disziplin aufrecht zu erhalten, um Vereinsbindung zu schaffen, bedarf es aber gerade in Zeiten, in denen die Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen bezw. unter den Ernährern der Jugendlichen besonders hart ausfällt, anstelle von Kommissbelfereien liebevoller Aufmerksamkeit und eines warmen Herz.

Soll sich doch hier die Tätigkeit der einzelnen Herren nicht auf das „Dabei-gewesen-sein“ beschränken, sondern Aufgaben erzieherischer und pädagogischer Art sind in weitem Umfange zu erfüllen. Es wird daher verständlich sein, dass eine Jugendleitung, die auf Ordnung und Disziplin in ihren Reihen hält, als Mitarbeiter gern solche Mitglieder zählen möchte, die neben Fußball-Wissen auch Lebenserfahrung und ein warmes Herz für die Jugend besitzen.

Nein, am Jugendbetrieb darf nicht allzusehr gespart werden. Aber das Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Die Club-Nachrichten vom Berliner Tennis-Club „Borussia“ 1902 erscheinen seit Anfang 1931 nur noch in Doppelausgaben; auch das ein sicheres Indiz für den klammen Geldbeutel der Borussen, und so ist die sparsame Berichterstattung zum Sportbetrieb auch schlicht dem Raummangel geschuldet. Zumal mit dem 30jährigen Vereinsjubiläum ein Ereignis aus dem Borussenkalender einen zentralen Platz zugewiesen bekommt.

Endzeitstimmung in der Weimarer Republik also. Aber gibt es neben Armut und Sorgen, neben den großen politischen Kämpfen und den clubinternen Auseinandersetzungen, neben dem ganz pragmatischen Platzmangel in den Vereinsnachrichten und dem Charakter des Berichterstatters Herberger nicht doch noch andere Gründe, warum der sportliche Erfolg, auf den die Borussen 30 lange Jahre hin gefiebert hatten, so wenig Bedeutung zugemessen bekommt?

Anstatt die Meisterschaft zu feiern, finden die Club-Nachrichten Nr. 5 & 6, 1932, die wärmsten Worte für Stürmer-Ass Hanne Schröder

Sportlich beginnt die VBB-Meisterschaft großartig. Sonntag, 20. März 1932. Frühlings-Anfang – Borussen-Freude.

Natürlich die Veilchen. Am ersten „offiziellen“ Frühlingsanfang sollen die „Veilchen“ nicht „blühen“? Das wäre ja gelacht! Was die wenigsten erwarteten und die meisten überraschte: Tennis-Borussia – in ihren lila Hemdchen – war wieder da!

Sieben Tage zuvor hatte im Eröffnungsspiel um die Berliner Meisterschaft Minerva die Pommern aus Stettin 5:2 geschlagen. Minerva gilt als haushoher Favorit um den Meistertitel, zumal den Borussen seit zehn Jahren in den entscheidenden Spielen die Nerven flattern. Als Läufer fehlt Kauer verletzungsbedingt. Wer wird ihn ersetzen? Wie werden die Borussen vor den 25.000 Zuschauern auflaufen? Lux Mittelläufer, Thönissen rechter Läufer und Martwig Verteidiger. Trainer Herberger setzt auf die Tugenden, die er bei seinem Freund und Mentor Nerz gelernt hat. Zu keinem Zeitpunkt sieht sich Minerva, die ihre Stärke aus der Offensive bezieht, in der Lage, den eisernen Verteidigungsriegel der Borussen zu knacken. Die taktische Maßnahme, Lux als dritten Verteidiger zurückzuziehen, und das glänzende Spiel von Butterbrodt und Martwig gewannen den Borussen ein Treffen, von dessen Gewinn sie selbst wohl nicht allzu sehr überzeugt waren. 4:2 — ein Ergebnis nach Maß.

Wir, stellt Herberger selbst befriedigt fest, wir hatten nichts dagegen, dass Minerva im Mittelfeld dominierte. Minerva kombinierte oft schön und gut – bis zum Strafraum. Dort bestimmten dann wir. So klingt der Coach, wenn er gut drauf ist.

Jeder Spieler hat durch die Konzentration auf die besondere Aufgabe und den Willen, mit jedem und für jeden zu stehen, sein[sic!] Teil zu diesem schönen Sieg beigetragen, zu einem Erfolg, auf den wir stolz sein können.

Doch schon das nächste Spiel, am 3. April in Stettin, wird von Herberger mit keinem einzigen Satz gewürdigt. Was ist hier los?

Nie wieder Stettin!, fordert die Berliner Morgenpost.

Eine enttäuschende Leistung der Veilchen. Stettin geht früh in Führung. Zwar ist Tennis stets ein wenig besser, doch die Pommern halten die Führung bis 18 Minuten vor Schluss fest. Dann gelingt Heini Schmidt der Ausgleich, das Spiel ist wieder offen.

Foul im Strafraum der Stettiner, die 4.000 Anwesenden erwarten längst den erlösenden Abpfiff, der den Pommern ein vorteilhaftes Unentschieden eintrüge. Die Straftat ist unumstritten, aber zuvor hatte der ansonsten tadellose Berliner Schiedsrichter Camnitzer eine vergleichbare Szene vor dem Tor der Lila-Weißen nicht geahndet.

Hanne Schröder legt sich den Ball zurecht.

Stille in Stettin.

Wumms! Souverän schlägt das Spielgerät im Netz des Gegners ein. 1:2 für die Veilchen!

Die verletzte pommersche Seele hält nun nichts mehr auf ihren Plätzen, sie ergießt sich übers Feld, um aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen. Nachdem Schröder den Strafstoß verwandelt hatte, strömten hunderte von Zuschauern auf den Platz und bedrohten Schiedsrichter und Berliner Spieler. Mit Gummiknüppeln musste die Polizei vorgehen, um den Platz zu räumen. Und nur unter Polizeischutz konnte der Unparteiische den Platz nach Spielende verlassen. Heini Schmidt, der Schütze zum Ausgleich zieht die lila-weiße Bilanz. Sechs verletzte Spieler. Herrmann Lux wackelten sämtliche Vorderzähne. Was sich am Sonntag auf dem Lindemann-Sportplatz in Stettin abspielte, gehört zu den Ausnahmefällen im Sport, findet auch die Berliner Morgenpost:

Schon bei dem Fußball-Meisterschaftskampf Minervas in Stettin zeigten sich die Stettiner Zuschauer von keiner guten Seite. Sie sind von einem blinden Fanatismus beseelt, dessen Ausmaße am Sonntag zu einer Katastrophe führen konnten. Leben und Gesundheit unserer Sportsleute steht auf dem Spiel, außerdem ist es notwendig, dass der Sport vor fanatisierten Massen geschützt wird. Wenn der Schiedsrichter von Polizeibeamten vom Platz geführt werden muss, damit ihn die Menge nicht lyncht, wenn die Spieler eines Fußballvereins sich nicht mehr den sportlichen Regeln unterwerfen können, dann ist es höchste Zeit, dass der Berliner Verband diesen unhaltbaren Zuständen ein Ende bereitet. Keinem Berliner Verein kann mehr zugemutet werden, in Stettin Meisterschaftsspiele auszutragen! Außerdem ist die Frage zu erwägen, ob der Berliner Verband die jetzige Verbindung mit den Pommern aufrecht erhalten kann.

Weil am Wochenende drauf in der Meisterschaft spielfrei ist, treffen die Tennis Borussen am Samstag in einem eilig anberaumten Freundschaftsspiel auf den Dauerkonkurrenten Hertha BSC. Herberger und die Berliner Zuschauer sind unzufrieden mit dem Meisterschaftsaspiranten. Die Veilchen verspielen zweimal einen Vorsprung, das Spiel endet 3 zu 2 für Hertha. Steht nicht am Ende die falsche Mannschaft im Kampf um die Meisterschaft? Diese Frage stellen sich viele Berliner Fußballfans vor dem Rückspiel der Veilchen auf dem Preußenplatz in Tempelhof gegen Minerva am 17. April.

Minerva, Hüterin des Wissens, römische Göttin der Weisheit und der taktischen Kriegsführung.

Minerva aus Moabit spielt taktisch klug, hat sich zu dieser Auseinandersetzung viel vorgenommen. Zur Halbzeit steht es 0:0, aber schon in der ersten Viertelstunde des zweiten Durchgangs steht es 0:2 für die Gäste aus Moabit. Meisterschaft ade? Herberger reagiert und zieht unsere Allzweckwaffe Lux aus dem Sturm in die Verteidigung zurück. Für ihn wechselt Thönissen von der Läuferposition in die Spitze. Das ist das richtige Signal zur rechten Zeit. Ein Ruck nach geht durch die Mannschaft. Heini Schmidt verkürzt auf 1:2, kurz darauf verwandelt Handschumacher einen Strafstoß: 2:2!

Nun wurde das Spiel unschön, verkrampft. Tennis musste unter allen Umständen das unentschiedene Resultat halten, das die Meisterschaft bedeutete, und Minerva konnte nur durch einen Sieg einen dritten, entscheidenden Gang erzwingen.

Endlich die Erlösung durch den Schlusspfiff, nicht mehr Zweiter! Tennis ist Meister und Herberger unzufrieden: Fast ohne jeden Versuch zur Gegenwehr wurde die Flinte ins Korn geworfen.

Der Gegenbesuch der Stettiner ist nun nur noch Zierwerk. Wer aber erwartet hatte, dass die beste Berliner Elf sich selbst die Krone aufsetzen würde, sieht sich getäuscht. Die Veilchen liefern an diesem 24. April auf dem NNW-Platz am Gesundbrunnen krasse Schulbeispiele dafür, wie man eine so starke Überlegenheit nicht „verwerten“ soll. Das Spiel gegen einen Gegner, den der Berliner Meister glatt 6:1 schlagen musste, endet mit einem Unentschieden. Die Veilchen lassen sich von den Vorpommern ein 2:2 abknöpfen.

Noch nie ist wohl ein Berliner Fußball-Meister beim Abgang vom Spielfeld ausgepfiffen, und sicher wäre das Pfeifkonzert noch lauter geworden, wenn man den „Veilchen“ den Meisterschaftskranz auf dem Platz überreicht hätte, wie man es sonst freudig und bewegten Herzens tat. Aber der Kranz blieb wohlweißlich unsichtbar…

Die Berliner sind mehr Glamour gewöhnt. Anstatt eine bis zuletzt spannende Meisterschaft zu feiern, sind sich Presse und Herberger selten einig. Keine Meister-Elf, resümiert die Morgenpost, nicht das Spiel eines Meisters, findet auch der Chef. Die Geburt eines Mythos. Eine Mannschaft wird Meister, die nicht meisterlich ist. Das ist kalter Erfolgsfußball, der nicht arbeitet, rackert, ehrlich ist. Ein Verein, der sich mit kühlem Kalkül die Meisterschale verschafft.

Und Tennis sah nicht aus wie eine Mannschaft, die Erste geworden war.