Da hast Du wieder Recht!

Die erste Auslandsreise nach dem Krieg führt die Veilchen Weihnachten 1952 nach Spanien, u. a. zu Atlético Madrid am ersten Weihnachtsfeiertag.

Pepe Junik ist tot. Er verstirbt am 1. Dezember 1952 an den Folgen eines Motorradunfalls. Am 13. hätte Pepi seinen 33ten Geburtstag gefeiert, und so wird die Weihnachtsfeier 1952 eine traurige Veranstaltung. Einer fehlt. Und selbst Männern, die durch alle Wirren und Schrecken des Krieges gegangen waren und denen kein Herzeleid fremd geblieben ist, stockte die Stimme, traten die Tränen in die Augen, als sie diese traurige Botschaft vernahmen. Wolfgang Neuss und einige Kollegen von den Stachelschweinen versuchen an diesem 19. Dezember im Clubcasino im Eichkamp, etwas Frohsinn zu verbreiten, aber schönste Geste des Abends ist der Verzicht der Kabarettisten auf Gage zugunsten des kleinen Peter – Rudolf Juniks Sohn.

An eine schöne Tradition aus alten Zeiten anknüpfend, haben die Club-Großkopferten eine Überraschung vorbereitet, die den Spielerfrauen den Schrecken in die Glieder treibt. Es gibt eine Weihnachtsreise, und sie führt nach Spanien! Am 22. Dezember geht’s los:

Ein Wermutstropfen fällt dennoch in den Becher der Freude über unsere Spanienreise: am Heiligen Abend werden wir mutterseelenallein in Madrid sitzen. Die Frauen unserer Spieler bekamen einen höllischen Schrecken, als sie dies erfuhren. Gemach, meine Damen, seien Sie unbesorgt um Ihre „Zuckerjungs“, auch diese Stunden werden vorübergehen, und es ist Vorsorge getroffen, dass wir uns fern der Heimat unter einem kleinen Weihnachtsbaum versammeln können, um im Schein der Kerzen unsere Gedanken zurückschweifen zu lassen an den häuslichen Herd, zur Familie und zum großen Verein, dessen lilaweiße Farben wir 24 Stunden später – erstmalig nach dem großen Weltenbrand – wieder im Ausland würdig und ehrenvoll vertreten wollen.

Tatsächlich blasen die Zuckerjungens unterm Madrider Weihnachtsbaum keine Trübsal, wie Goalie Steinbeck berichtet. In tiefe Sessel unseres feudalen Madrider Hotels geschmiegt vertieft sich Heini Schmidt in die Speisekarte. „Na, Heini, hast Du schon gewählt?“ Der Angesprochene antwortet mit Gemurmel, das ungefähr darauf hinausging, dass er mit der Karte nicht ganz klar käme. Hilfsbereit erhob sich da ein fremder Gast und sprach in gebrochenem Deutsch: „Ist nicht Speisekarte – ist Aufstellung von Gemäldegalerie!“ Ha – hätte uns doch unsere Führung beinahe einen REMBRANDT oder RUBENS zum Nachtmahl bestellt!

Die Weltläufigkeit, mit der sich Tennis Borussen vormals so selbstverständlich bewegt hatten, ist ihnen nach zwölf Jahren 1.000jähriges Reich ein wenig abhanden gekommen. Ein Kellner bemüht sich um Ette Haberstroh, der nur Bahnhof versteht. Er hörte sich alles ruhig, kopfnickend an und sprach dann schließlich in stoischer Ruhe aus: „Da hast Du wieder recht!“ – Da hast Du wieder Recht!, das wird zum geflügelten Wort dieser Spanienreise. Als Fritz Wilde ein Glas Milch bestellt, gelingt es, die Bestellung erfolgreich aufzugeben, erst nachdem die versammelte Mannschaft laut „Muh, Muh“ ruft und dabei mit den Händen melkartige Bewegungen vollführt. Da hast Du wieder Recht!

Aber diese Provinzialität ist keine bösartige. Während daheim noch über das Für und Wider des Vertragsspielers gestritten wird, staunen Mannschaft und Funktionäre der Veilchen über die Möglichkeiten des spanischen Profifußballs. Trainer Uhlig freut sich auf das Match gegen Atlético Madrid: ausgesprochene Klassemannschaften als Gegner, reine Profi-Teams, eine Ansammlung europäischer Spitzenkönner. Sie sind nicht wesentlich schwächer als die spanische Nationalelf, weil diese Vereine in der angenehmen Lage sind, sich durch ausländische Kanonen zu verstärken, durch Importe, die für einige 100.000 Peseten aus Marokko, Schweden, Ungarn, Frankreich oder Südamerika aufgekauft wurden.

Derweil sie hier in Madrid den sportlichen Horizont des Profifußballs bewundern, werden die Veilchen zu Hause in Berlin aufs Heftigste angefeindet. Warum? Die Lila-Weißen haben es gewagt, ihren Verein für junge Engländer zu öffnen, die in Charlottenburg stationiert sind. Das geht manchem Zeitgenossen heftig gegen den Strich, und die Debatte erinnert ein wenig an jene Tage, als der Fußball in Deutschland in seinen Kinderschuhen steckte. Englische Krankheit!, schimpften damals die Zeitgenossen, und später, als Fußball längst ein Massenereignis geworden war, sahen die Verfechter des rigiden Amateurgedankens im englischen Profifußball vor allem den Vergifter des deutschen Wesens.

Die Tennis Borussen bleiben gelassen.  Hatte nicht Otto Nerz, dessen große Laufbahn bei uns begann, seine grundlegenden Kenntnisse über den Fußball in England erworben? Also knüpfen die Veilchen mit ihrer Entscheidung, die Engländer im Club herzlich willkommen zu heißen, an eine lieb gewonnene Tradition an:

Für uns steht in diesem Falle die menschliche und die rein sportliche Seite im Vordergrund. Deshalb fühlen wir uns heute an dieser Stelle besonders verpflichtet, unsere englischen Sportfreunde bei Tennis-Borussia auf das herzlichste willkommen zu heißen. Mögen sie sich bei uns genau so wohl fühlen, wie es Jahrzehnte hindurch andere ausländische Sportkameraden bei Tennis-Borussia getan haben.

25. Dezember 1952, Anstoß in Madrid. Auf den Rängen setzt ein Höllenspektakel ein. Trainer Uhlig rutscht das Herz in der Hose und befürchtet während der ersten Minuten, dass die Miesepeter und Kritiker vielleicht recht behalten könnten, die für Spanien eine Blamage geunkt hatten. Die Verteidiger, Deinert, Warstat und Wittig schufteten wie die Berserker, Manthey klebte förmlich an den schwarzen Beinen Ben Bareks und Köhna stoppte überraschenderweise den Mittelstürmer der spanischen Nationalelf, den schusskräftigen Escudero, so wirkungsvoll, dass er zum Turm unserer Abwehrreihen wurde.

Manthey wächst über sich hinaus. In der 25ten luchst er der spanischen Kombinationsmachine einen Ball ab, wird von der Wucht des Schusses nach Rechtsaußen herausgetragen, flankt zu Wenske, der den Ball am Tormann vorbei unhaltbar ins Netz versenkt. Führung!

Durch einen Foul-Elfmeter gelingt den Madridern der Ausgleich, und kurz vor dem Halbzeitpfiff steht es 2:1 für die Gastgeber. Die Veilchen strecken nicht auf. Wieder Manthey. Kurtchen hebt einen sauberen Flugball in den Strafraum, den Knippser Graf mit dem Kopf fasst und aus der Drehung heraus ins Netz schleudert. 2:2!

In der letzten Viertelstunde verlassen die Gäste die Kräfte. Barek und der Ungar Angelovich punkten zum Endstand. 4:2. Für diese Leistung muss man sich wahrlich nicht schämen. Alle Spieler berauschten sich an ihrer Aufgabe, es gab keine Ausfälle.

Und die Quintessenz der Spanien-Reise?

Solche Niederlagen braucht man nicht bereuen, weil die Mannschaft aus ihnen mehr Nutzen ziehen kann als aus einer ganzen Saison in der Berliner Vertragsliga.

Einer, dessen Weltläufigkeit außer Frage steht, meldet sich dieser Tage. Dr. Otto Kuttner, in den 20er Jahren eines der Herzen des Clubs, schreibt aus Hongkong. Er war während der 50-Jahre-Feierlichkeiten schmerzlich vermisst worden. Verbleib und Überleben unbekannt. Er war, wie er nun aus 12 Tregunter Mansions, May Rd, Hongonk schreibt, 1937 aus dem Dritten Reich emigriert.

War das eine Freude, von meiner alten Tennis Borussia zu hören! Keiner von Ihnen wird beurteilen können, was es für mich bedeutet, das Gefühl zu haben, nicht vergessen zu sein!

Auch meiner Frau hat es unendlich wohlgetan, das treue Gedenken der Borussen zu empfinden. Ich fühle mich immer noch als einer von den Getreuen. Bin ich noch ein altes Mitglied? Oder lässt es sich nicht arrangieren? … Ich bedaure unendlich den Tod von Rieke Böhme, Alfred Lesser und Ulrich Rüdiger.