Das also sind die Veilchen vom Mommsenstadion

Willkommen in den 1950ern! Aus 85.000 Kehlen donnert der alte Schlachtruf, Ra! Ra! Ra! Borussia!, ins Rund des Olympiastadions, wo derweil elf Herren in lila-weißen Trikots einlaufen:

Im Tor

Karl-Heinz Steinbeck, „Bubi“ genannt, 1,85 groß, 32 Jahre alt. … Gelingt ihm die erste Abwehr gut, dann unterläuft ihm im Rest der Spielzeit kaum ein Fehler.

Verteidigung

Heinz Warstat, auch 32 Jahre alt … Der Staakener wird oft als Achillesverse der Meisterelf bezeichnet. Harte Kritik raubte ihm offenbar das Vertrauen zur eigenen Leistung. …

Den Damen sei gesagt: Warstats Nebenmann Kurt Podratz ist k e i n Italiener. Er sieht nur so aus und man nennt ihn so, wegen seines südländischen Temperaments. In Wirklichkeit stammt Podratz aus Pommern, zählt auch 32 Lenze … und ist privat Inhaber zweier Konfektions-Geschäfte.

Läufer

Heinz Hausmann … kam spät aus der Gefangenschaft nach Berlin zurück. Er schloss sich TeBe an und ist dort ein nützlicher, fleißiger Spieler geworden. …

Rudolf Junik …, den man eigentlich nur als „Pepi“ kennt, ist Berlins zuverlässigster Auswahlspieler der Nachkriegszeit. Ein hervorragender Stürmer und ein treffsicherer Elfmeterschütze, die Säule in der guten TeBe-Abwehr. …

Mit knapp 25 Jahren zählt Erich Wittig zu den jüngsten Spielern des Meisters. Er ist der Mann mit der größten Zukunft…

Sturm

Der kleine Kurt Manthey (1,68) bewährte sich bereits als Verteidiger, Läufer und Stürmer …, ein rasanter Außenstürmer, erst 23 Jahre alt, als Amateur Anwärter auf einen Posten in der Olympia-Mannschaft.

Gerhard Graf, 30 Jahre alt, fast 50mal repräsentativ für Berlin, ein eleganter Techniker mit gutem Torinstinkt, schnell, beweglich und daher schwer zu decken.

Das Idol der Berliner Jugend, Berlins populärster Spieler der Gegenwart, dreimal international, siebenmal in der deutschen Auswahlelf, über 65mal repräsentativ für Berlin und achtmal für Königsberg, das ist natürlich Hanne B e r n d t. 38 Jahre wird Berndt im Oktober, wer ihn kennt, hält es nicht für möglich. Fast 1.000 Tore schoss er in seiner Laufbahn…

Horst Schmutzler. Ein ideenreicher Halbstürmer mit dem Sinn für schnellen Kombinationsfußball und gutem Torinstinkt…

Fritz Wilde. Einst das „enfant terrible“ des Berliner Fußballs, reifte Wilde in der Fremde. Ein Routinier des grünen Rasens, der Schrecken aller Verteidiger.

Reserve:

Studenten-Nationalspieler Erwin Schadow und der Alleskönner Kurt Schläger stehen in der Reserve. Nicht zu vergessen Gerhard „Ette“ Haberstroh, den eine tückische Krankheit auf das Krankenbett warf.

Das also sind die „Veilchen vom Mommsenstadion“.

Pfingstsonntag, 13. Mai 1951, 15:00 Uhr. Schiedsrichter Skuballa (Hamburg) pfeift zum Spiel gegen den 1. FC aus Nürnberg an. Sieben nationale Titel schlagen den Nürnbergern bis dato zu Buche. Nun gegen TeBe in die Vorrunde zur Meisterschaft 1950/51. Für den Club ist es das 75te Spiel um den Titel! Erstmals wird nicht mehr nach dem K.o.-, sondern nach einem Punktsystem der Meister ermittelt. Gespielt wird in zwei Gruppen der westdeutschen Oberligen und der Berliner Stadtliga. Den Lila-Weißen wird allenfalls eine Außenseiterchance eingeräumt. Aber Trainer Herrmann Lux, als Herrmann der Eiserne selbst ein Berliner Fußballidol, hat seine Gewächse bestens gepflegt. Dem HSV hatten die Veilchen soeben ein achtbares 3 zu 2 abgetrotzt (eine Woche zuvor, am 6. Mai). Trotz der Niederlage attestierten die Zuschauer den Berlinern ein großartiges Spiel. Wenn TeBes Sturm so zwingend spielt wie in der ersten Hälfte gegen den HSV und etwas mehr Schussglück aufweisen kann, so hat auch die starke Hintermannschaft des „Clubs“ … nichts zu lachen. Alle rechnen mit einem hart umkämpften Spiel, schließlich geht es für beide Parteien darum, sich ernsthafte Chancen auf die Meisterschaft zu wahren. Denn auch die Glubberer hatten in der Vorwoche 1:2 gegen Preußen Münster verloren. Heute haben die Lila-Weißen hingegen die Chance, ihre Bilanz gegen die Roten auszugleichen: Zwei Unentschieden, ein Sieg, zwei Niederlagen seit dem ersten Zusammentreffen am 2. August 1925.

15:02 Uhr und 15:03 Uhr: Unmittelbar nach Anpfiff. Bubi Steinbeck lässt sich von der Kulisse nicht Bange machen und rettet innert einer Minute gleich zweimal vor einem frühen Rückstand, weil er sich zunächst Morlock und dann Brenzke tollkühn entgegen warf, den Ball zu fassen bekam und damit die Gefahr bannte. Der Club in der Anfangsphase überlegen, kann jedoch im Vergleich zu Clubmannschaften vergangener Tage nicht hundertprozentig überzeugen. Persönlichkeit alten Stils war lediglich Baumann, der sich durch seine zu sehr aufs „Umhauen“ abgestellte Art alle Sympathien verscherzte. Aber als er sich an Berndt vergreifen will, der bekanntlich auch nicht ohne ist, zieht er endlich einmal den kürzeren und humpelte von der 11. bis 15. Minute auf Linksaußen. Angesprochen auf sein hartes Einsteigen, wird Baumann später trotzig sagen:

Im Übrigen sollen die Zuschauer nicht glauben, dass ein alter, erfahrener Spieler durch Pfiffe aus der Ruhe gebracht werden kann.

Baumann ist auch an einem weiteren Aufreger beteiligt. 26. Minute: gleich zwei Borussen, Berndt und Schmutzler, werden im Strafraum gelegt. Beherzt zeigt der wackere Schiri Skuballa auf den Elfmeterpunkt. Jetzt schlägt Vollstrecker Grafs Stunde. Aber, herrje! Sonst unfehlbar, schob Graf diesmal, statt wie gewohnt voll zu schießen, das Leder so schlapp und unplaciert, dass Schaffer halten konnte (siehe Titelbild).

Los jetzt hier! 30. Minute: Hotte Schmutzler schlenzt schön an den Innenpfosten, und das Spielgerät wird nur vom Netz gebremst: 0:1! 0:1? Zu früh gefreut, Hanne Berndt, der fast auf der Linie mit schnellem Spreizsprung dem Ball Platz gemacht hatte, steht abseits.

30. Minute zu früh gejubelt. Skuballa (Pfeil) entschied Abseits. Foto: unbekannt; Archiv Buschbom.

35. Minute: Die Veilchen spielen sich in einen Rausch. Berndt köpft eine mächtige Flanke Richtung Tor. Gleich drei Nürnberger verteidigen. Sippel, Baumann und Schaffer landen gemeinschaftlich im Netz. Der Ball auch. 1:0 für die Tennis Borussen! Ra! Ra! Borussia!

Nur vier Minuten später klebt „Keule“ Podratz das Pech an den Händen, bei einem seiner berühmten Bodenrutscher sprang ihm das Leder an den Arm, der Unparteiische entscheidet auf Hand, und gegen Brenzkes bekannte Elfmeter-Bombe war auch der tüchtige Steinbeck machtlos. 

40. Min. Skuballa entschied auf Elfmeter, Brenzke vollstreckt mit placiertem Flachschuss in die rechte Ecke. Es steht 1:1. Foto: unbekannt; Archiv: Buschbom.

40. Minute: Mit dem Ausgleich wird das Spiel wieder taktischer. Torschütze Brenzke spielt übrigens sehr klug, verlagert sein Spiel ins Mittelfeld und entzieht sich so dem Zugriff des eisenharten Junik, ist aber wieder vorn, wenn man beim Club zum Angriff bläst. Und so kommt es, dass sich alle Beteiligten mit einem 1:1 für die ersten 45 Minuten vertraut machen. Doch dann gelingt dem sonst nicht besonders auffallenden Winterstein aus sechzehn Metern ein Volleyschuss in den Dreiangel, für den gegen die Sonne ohne Mütze haltenden Steinbeck nicht zu erreichen. 2 zu 1 für die Nürnberger.

Halbzeit. Seit der Währungsreform am 20. Juni 1948 zahlen die Westdeutschen mit der Deutschen Mark. Die Luftbrücke konnte am 12. Mai 1949 wieder aufgehoben werden, am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft, und am 14. August 1949 wurde Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik gewählt. Im Oktober 1949 folgte die Gründung der DDR mit Wilhelm Pieck an der der Spitze. Im Mai 1951 ist bereits der größte Teil der Gelder aus dem Marshall-Plan an die Bundesrepublik geflossen, bis Ende 1952 werden es über 1,4 Milliarden US Dollar sein. Mit diesem Geld mündet die Aufräumarbeit der Trümmerfrauen in einen Aufschwung, den die Deutschen als „ihr“ Wirtschaftswunder feiern. Wohlstand und Modernität hatten bereits 1949 das Vorkriegsniveau erreicht, und das Realeinkommen einer durchschnittlichen Arbeiterfamilie war schon 1950 höher als vor dem Krieg. Doch der Boom soll erst einige Jahre später richtig an Fahrt gewinnen. Noch liegt 1951 die Arbeitslosenquote bei rund 10 Prozent, aber schon im Dezember 1955 wird das erste Anwerbeabkommen (mit Italien) geschlossen werden, weil der Arbeitsmarkt den Bedarf der boomenden Wirtschaft, insbesondere im Niedriglohnsektor, nicht mehr befriedigen kann. 1960 wird sich der Export gegenüber 1951 nahezu verfünffacht haben, und das Bruttosozialprodukt verdreifacht.

Kurz vor Wiederanpfiff. Zwei Tage bevor die Veilchen sich den Nürnbergern stellen, ziehen die Deutschen einen Schlussstrich. Am Freitag, den 11. Mai 1951, wird das Entnazifizierungsschlussgesetz verkündet. Damit ist für Parteimitglieder der NSDAP und Funktionäre des Dritten Reichs der Weg in den öffentlichen Dienst wieder frei. Viele Deutsche hatten die Entnazifizierung als Demütigung empfunden, sie wollen zurück zur Tagesordnung, den neuen Wohlstand genießen, stolz sein. Aber worauf?

Die Deutschen befinden sich nach dem Krieg in einer tiefen Identitätskrise. Aufgabe des Fußballs ist es, Nationalismus in Folklore zu verwandeln, wird Wolfgang Neuss, Kabarettist, Schauspieler, Musiker, Tennis Borusse, später einmal feststellen. Darüber mag mit dem Abstand mehrerer Dekaden trefflich gestritten werden können. Doch fußt diese Beobachtung unmittelbar auf den Erlebnissen während solcher sportlichen Großereignisse, als, wie an diesem 13. Mai, 85.000 Zuschauer die Veilchen im Kampf um die Deutsche Meisterschaft sehen wollen. Im Olympiastadion, in dem die Nationalsozialisten 1936 mit dem sportlichen Großereignis Olympiade der Welt Friedfertigkeit und Harmlosigkeit vorgaukeln wollten – eine infame Propagandainszenierung, gegen die der Tennis Borusse Erich Seelig aus dem amerikanischen Exil vehement seine Stimme erhoben hatte. Jener Ort, von dem Hans Rosenthal schreibt, er habe eine Mischung aus Triumph und Gruseligkeit, Abscheu und Behagen empfunden, als er während einer der Aufstiegsrunden der 1970er Jahre in der Ehrenloge Platz genommen hatte, genau auf dem Platz, den Hitler eingenommen hatte, als er 1936 die Welt zu den Olympischen Spielen empfing.

Der würde sich im Grabe herumdrehen, dachte ich mir, wenn er wüsste, dass auf seinem Platz der kleine Hans Rosenthal sitzt…

Nun sind sie  wieder hier und jubeln. Doch diesmal ist es nicht der Führer, dem die Massen zujubeln, es sind die Veilchen vom Mommsenstadion, mit denen sie fiebern. Aber die Erinnerung an die Masseninszenierungen der Nazis ist noch frisch, und der Vergleich drängt sich besonders hier, im Olympiastadion, auf: Das Fußballstadion, will Neuss sagen, ist ein Ort, wo all die emotionalen Bedürfnisse und Sentiments unverfänglich ausgelebt werden können, die in die von den Deutschen begangene Katastrophe geführt hatten. Der Fußball ist in der Lage, sie zu bändigen. Folklore, Brauchtum. Hier sinkt, was den Nationalismus ausmacht, zu etwas herab, das man in seiner Freizeit pflegt. Etwas, das dem wirklichen Leben entäußert und mit einiger Distanz betrieben werden kann. Und – man ist versucht, es zu fragen – ist in diesem Sinn der Fußballfan(atic) nicht ein grotesk geschrumpfter Wiedergänger des Fanatikers, den der Philologe Victor Klemperer in seiner Lingua Tertii Imperii als ein Charakteristikum des Nationalsozialismus beschreibt? Der Fan legt sich, wie im Karneval, die Maske des Fanatikers an, mit der ihm der Schrecken ausgetrieben werden soll.

Nach dem Wiederanpfiff. Die Veilchen zeigen im zweiten Durchgang nicht die Schwäche, die ihnen in der Vorwoche beim HSV eine fußballerische Sensation versalzen hatte. Trainer Lux hat seine Lektion gelernt, und die Lila-Weißen konditionell hervorragend eingestellt. TeBe wurde keineswegs das Opfer eines konditionsstärkeren Gegners.

65. Minute. Der Veilchen-Puls geht hoch. Graf zieht wie am Faden gegen den gegnerischen Kasten, weit und breit niemand, der ihn am Zug aufs Tor hindern möchte. Nur Club-Keeper Schaffer eilt ihm entgegen! Keiner der Kontrahenten mag nachgeben, Schaffer schafft Graf von den Beinen, und eine flotte „Strafraumleiche“ bekannter Marke mag zu der Entscheidung des Unparteiischen doch etwas beigetragen haben. Strafstoß. Wilde legt sich den Ball zurecht. Der Elfmeter landet unhaltbar in den Maschen. Ausgleich! Ausgleich! Liegt eine Sensation in der Luft?

65. Min. Elfmeter. Wilde vollstreckt, es steht 2:2. Graf war von Schaffer (Torwart) vor dem Abschlag einfach umgeworfen worden: Elfmeter! 71. Min. dann 3:2 für Nürnberg. Foto: unbekannt; Archiv Buschbom.

71. Minute. Aber dann: Ein wunderbarer Direktschuss von Kallenborn aus wenigen Metern nach einem geschlossenen Angriff des Clubsturmes. 3 zu 2. Bricht das Veilchen-Haus jetzt in sich zusammen? Ausgerechnet dieser Treffer wurde zum Signal für Tennis-Borussia. Immer besser nun Hausmann, in Abwehr und Angriff gleich gut, zu bewundern die Einsatzfreudigkeit von Gerhard Graf. Alles stürmte und der Club verteidigte seinen Ein-Tor-Vorsprung verbissen.

Schmutzler? Was macht Schmutzler? Dieser hoch veranlagte, aber launische Spieler. Schmutzler, den sie, lauscht man 60 Jahre später im Mommsen-Casino den Gesprächen jener, die ihn sahen, mit Ehrfurcht als einen der besten Spieler bezeichnen werden, der je ein lila-weißes Trikot trug. Zum Haareausraufen. Wenn er zauberte, dann ohne Nutzeffekt, wenn er spielte, dann ohne Konzentration. Schussablagen von zwanzig Metern neben das Tor sagen genug. Ein Pfeifkonzert im herrlichen Rund des Olympia-Stadions.

Abpfiff. Vergebens alle Bemühungen, die Hintermannschaft der Nürnberger hält dicht. Trotzdem zollt die Presse den Veilchen Respekt: Ein Unentschieden wäre nicht als Fehlurteil anzusehen gewesen.

Rückblicke. Pünktlich zum Spiel gegen den Nürnberger Club erscheint im Mai 1951 die erste Nachkriegsausgabe der Club-Nachrichten vom Berliner Tennis-Club „Borussia“ e. V. Es sind Jahre ins Land gezogen, schreibt TeBe-Präsident Carl Helfert, ehe es wieder möglich geworden ist, unsere Clubzeitung zu neuem Leben zu erwecken. Ein stiller Wunsch vieler. Ein Markstein in der Geschichte unseres Clubs.

Viele sind nicht mehr da. So setzt mit der Ausgabe Nummer 1, Mai 1951, ein langer, trauriger Reigen an Nachrufen ein. Den Anfang macht Ulrich Rüdiger, seit 1904 einer der aktivsten Sportler und Funktionäre des Vereins. Ulrich Rüdiger … lag bereits irgendwo in einem Massengrab verscharrt, als sinnloses Opfer eines Systems, das im Jahr 1933 beinahe sein Lebenswerk, unsere Tennis-Borussia, aus niedrigen Beweggründen zerstört hätte.

Die Gebrüder Leiserowitsch:

Leolpold Leiserowitsch weilt nicht mehr unter den Lebenden. … Seine Liebe zum Club kam jedoch erst so recht zum Ausdruck, als er nach vielen Jahren unendlichen Leids, das ihm und seinen Familienangehörigen aus politischen Gründen wiederfahren war, sich vor kurzem erneut unserem Club anschloss, in dem er mehr als 18 Jahre hindurch nicht Mitglied sein durfte. Sein Entschluss, sich uns offiziell wieder anzuschließen, konnte vom menschlichen Standpunkt aus nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Welch tragische und grausame Inkonsequenz liegt in dem Umstand begründet, dass ein Mensch wie Fritz Leiserowitsch, der mehrere Male in Auswahlmannschaften die Farben Berlins vertrat, später von den politischen Gewalthabern seiner Heimat auf barbarische Weise umgebracht wurde! Welch traurige Reminiszenz überkommt uns, wenn wir bedenken, dass ein Mensch wie Simon Leiserowitsch, nachdem er etwa dreißigmal in der Berliner Stadtelf gestanden hatte, Deutschland verlassen musste, weil bösartige und von einem politischen Machtrausch befallene Menschen die Gesetze der Humanität missachteten. Erst wer diese hier nur dezent angedeuteten Vorgänge in ihrer ganzen Tragweite erfasst hat, wird ermessen können, welch Beispiel menschlicher Größe uns unser kürzlich verstorbener Leo Leiserowitsch gegeben hat, als er sich dafür entschied, mit seinen alten Borussen wieder gesellschaftlichen Kontakt aufzunehmen.

Leo und Fritz sind tot. „Sim“ lebt als letzter der drei Brüder in Israel.

Die letzte Geste seines jüngst verstorbenen Bruders Leo wird für uns eine große Verpflichtung sein.

Alfred Lesser:

Es ist schwer, mit Worten darzustellen, was Alfred Lesser für „Tennis-Borussia“ bedeutete. Als Mitbegründer des Vereins, als selbstloser Förderer mit hohen Verdiensten für die Entwicklung des Clubs und als ein selten guter Mensch – so bleibt er uns immer in Erinnerung!

Ja, der von ihm begründete Club war ihm wirklicher Lebensinhalt, und so können wir wohl begreifen, wie schwer es ihm wurde, seine geliebte Heimatstadt Berlin verlassen zu müssen und damit den Verein aufzugeben, der ihm so viel bedeutete. Er konnte das nie verwinden; diese schwerste Enttäuschung seines Lebens nagte an ihm und trug wohl auch dazu bei, dass er zu früh abberufen wurde. Wir behalten ihn, unseren Alfred, in treuer Erinnerung!

Viele wenden sich aus dem Exil an ihren Club. Briefe erreichen die Veilchen von Tutti Lesser, Adolf Wisotzki (beide New York), Max Berglas (New York), Dr. Jack Karp (London), Walter Gore, vormals Goldfeld, (London) und vielen anderen. Mit Freude und Wehmut erinnert sich etwa Jacques Karp der guten alten Zeiten, der innigen Freundschaft, die uns Tennis Borussen verband. Möge unser alter Club wie bisher sportlich und kulturell die wichtige Rolle fortführen, die den Menschen durch den Sport zur Freundschaft erzieht und die Völker zum Frieden. Meine Gedanken werden mit ihnen sein…

Kein Zweifel besteht, wer sich hier aus dem Ausland an die Tennis Borussen wendet. Es sind jene, die überlebt haben. Nicht den Krieg, sondern den Nazi-Terror. Auch dafür steht Tennis Borussia im Mai 1951, als 85.000 im Olympiastadion die Veilchen wachsen sehen wollen. Ist dieser Andrang mit dem sportlichen Ereignis allein zu erklären? Ist der Besuch bei den Lila-Weißen nicht ein bisschen wie ein Besuch bei einer alten Großtante, vor der man sich als Kind wegen ihrer Marotten stets ein wenig gegruselt hatte? Später stellt man fest, wie liebenswert sie ist, diese alte Jungfer, gerade weil sie sich den Mut bewahrt hat, von der Norm abzuweichen. Tante Borussia jedenfalls (um im Bild zu bleiben) war von Beginn an etwas anders. Die feinen Leute verhauen jetzt schon die Arbeiter, hieß es bereits 1910 nach einem Spiel gegen den Weißenseer FC, dem die Tennis Borussen 6:1 Veilchen verpasst hatten. Das sah der Fußball nicht vor.

Die Tennis Borussen hatten von seiner Frau Tutti vom Tod Alfred Lessers erfahren. Frau Lesser teilte uns mit, dass sie immer, wenn sie das Grab ihres lieben Mannes aufsucht, lila-weiße Blumen niederlegt – – – „Tennis-Borussia gehörte doch so sehr zu seinem Leben!“ Die Berliner widmen ihm nicht nur einen Nachruf. Ihm zum Andenken findet ein kleines Gebinde mit lila-weißer Schleife den Weg nach New York, doch der Absender sorgt für einige Verwirrung, wie Tutti Lesser berichtet:

Als ich das Paket ausgehändigt bekam und den Absender „Tennis-Borussia“ las, wusste ich gar nicht so recht, was los ist. Der Postbeamte, der mein perplexes Gesicht sah, wollte mir helfen und sagte: „Ein Tennis-Club!“ Dieses Wort löste den Bann in mir. Ich musste herzlich lachen und erklärte ihm, dass es der Name eines Fußballclubs wäre, wofür sie gerade hier ein so großes Verständnis haben. Das begriff er wohl nicht so recht, und ich musste ihm und den anderen Beamten, die sich um uns versammelt hatten, gleich vom alten Club berichten.

Das also sind die Veilchen von Berlin.