„… eins, zwei, drei, Herberger trinkt keinen, fünf, sechs, sieben…“

Sepp Herberger bei Tennis Borussia. – 1932.

Die Geschichte des Berliner Tennis Club Borussia ist seit seiner verbunden mit einer Reihe prominenter Namen. Von über Otto Nerz zu Hans Rosenthal gaben nicht wenige darunter dem kulturellen, dem sportlichen und dem medialen, kurz: dem gesellschaftlichen Leben eines ganzen Jahrhunderts ihren Stempel bei.

Auch Sepp Herberger erlernte das Trainer-Handwerk bei den Berliner Veilchen.

Herberger wurde auf Initiative des Cheftrainers Otto Nerz im Oktober 1926 in den Verein aufgenommen. Mit ihm, um den auch die Hertha buhlte, holte Nerz nicht nur einen der talentiertesten Stürmer jener Jahre zu den Veilchen, sondern auch einen seiner begabtesten Studenten an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen.

Als Arbeitersohn und Fußballer konnte sich Herberger den Umzug nach Berlin, vor allem aber Studium und Lebensunterhalt nur finanzieren, weil er eine pro forma Anstellung im Bankhaus der beiden Borussen Georg Michaelis und Max Berglas erhielt. Der restriktive Amateurparagraph untersagte damals jegliche Entlohnung der Athleten, und bei TeBe hielt man sich besonders genau an die Vorschriften, weil man um den Ruf des Vereins als „Club der feinen Pinkel“ wusste und den Kritikern keine Steilvorlagen liefern wollte.

Ende 1926 erhielt Nerz die Berufung zum Trainer der Reichsauswahl, und Herberger übernahm Anfang 1927 das verwaiste Traineramt der Lila-Weißen, zunächst als Spieler-Trainer (bis August 1928) und nach Ende seines Studiums 1930 ausschließlich als (professioneller) Spielleiter.

Herberger führte die Arbeit im Sinne seines Vorgängers fort, der bei Tennis Borussia die moderne englische Spielweise des britischen WM-Systems in die Weimarer Republik eingeführt hatte. Anders als dieser sah Herberger für die Läuferreihe (also die Spieler hinter dem Sturm) eine doppelte Funktion vor: Sie sollten defensiv arbeiten, jedoch auch weiterhin in der Lage sein, offensiven Fußball zu spielen, um so für Überzahl im gegnerischen Strafraum zu sorgen.

Herberger war in seiner Jugend nicht nur als ausgesprochen talentierter Spieler bekannt, sondern auch wegen seiner Ballverliebtheit verrufen. Er könne sich nur schwer der Mannschaft unterordnen, hieß es. Als Trainer hingegen verlangte er genau das von seiner Mannschaft:

Man kann allerlei fürs Leben lernen, wenn man richtigen Mannschaftssport treibt, vor allem das Eine, daß vereinte Kraft oft leicht erreicht, was vielen niemals glückt, wenn sie nicht einig sind. Dazu gehört allerdings auch die Fähigkeit, sich unterzuordnen unter den Willen eines Einzelnen, des Führers. So wird ein guter Sportsmann gewöhnlich auch ein guter Staatsbürger sein, weil er weiß, daß eine Obrigkeit sein muß, der er zu gehorchen hat. […]
[Kamerad sein] heißt, seine Persönlichkeit schweigend zurücktreten lassen hinter den Gedanken der Gemeinschaft. Es wird heute viel gesprochen vom Werte der Persönlichkeit, […]. Und vielleicht bedürfen wir gerade heute mehr als je der Männer mit ausgeprägter Persönlichkeit. Aber die stärkste Eigenschaft und die wertvollste solcher Männer ist sicherlich die Fähigkeit, sich im Dienste großer Ideen unterzuordnen. Das ist die Disziplin des Lebens, die wir im Sport sehr wohl erlernen können.

Diese gegen jede Gewohnheit der Club-Nachrichten nicht namentlich gezeichneten Zeilen stammen zweifellos aus der Feder Herbergers. Auch seine Spielberichte in der Vereinszeitschrift jener Tage sind so sehr beherrscht von dem Gedanken an die „Unterordnung unter die Mannschaft“, dass beinahe jegliche Einzelkritik seiner Spieler entfällt:

Es ist so schwer, eine Mannschaft zu werden. So schwer, nur für die Mannschaft zu spielen Das auch noch immer während des ganzen Spiels zu tun. – Darum sind wir so leicht aus dem Gleis zu bringen, weil der oder jener es nicht fertig bringt, ganz im Dienst für die Mannschaft aufzugehen. Auch die Spielauffassung, die Idee zu [sic!] Spiel läßt wünschen.

Oder auch:

Hier haben wir eine Mannschaft gesehen! So wird Fußball gespielt!! So kann aber nur gespielt werden, wenn jeder ganz in der Mannschaft aufgeht, jederzeit seiner Aufgabe nachkommt.

Damit machte sich der Cheftrainer nicht unbedingt beliebt bei seinen Spielern. So berichtete etwa Herbert Pahlke, Stürmer im Jersey der Veilchen, nicht ohne Schadenfreude von einer Überfahrt nach Großbritannien:

Auf der Bahnfahrt nach Vlissingen belehrte uns der Sportstudent Herberger, was wir angesichts der bevorstehenden Seefahrt zu unterlassen hätten: ‚Männer' – das war ja sein Ausdruck –, ‚esst nicht so viel, das schlägt auf den Magen. Und wenn ihr seekrank werdet, dann müsst ihr so viel rausbringen.' Wir haben uns nicht daran gestört. Die Schifffahrt nach England wurde dann in der Tat stürmisch. Gegen 0:00 Uhr ßen wir mit versammelter Mannschaft an der Reling. Der Gutsche vom Berliner SV hat den Seppl nachgeäfft […]. Ja, und der erste, der daraufhin verschwunden war, war der Seppl. Der Seppl war hinterher jedenfalls sterbenskrank und hat beinah die Galle ausgespuckt, weil er nichts gegessen hatte. Bis kurz vor dem Spiel in London hat er im Bett gelegen und dann mit Ach und Krach sein Spiel gemacht.*

Herberger, so Pahlke weiter, habe eben als Streber gegolten, der auch dadurch negativ auffiel, dass er die geselligen (und häufig feucht-fröhlichen) Gelegenheiten mied: „eins, zwei, drei, Herberger trinkt keinen, fünf, sechs, sieben…“

Der Vereinsvorstand der Lila-Weißen jedenfalls empfand sich keineswegs als obrigkeitliches Gremium von (Vereins-) „Führern“, dem unbedingt zu gehorchen sei. Vielmehr wurde der freundschaftliche Umgang betont und zu Kritik aufgefordert:

Uebt Kritik, Kameraden, an den Maßnahmen des Vorstands. Eine gesunde, sachliche Kritik hat noch immer Fortschritt gezeitigt. Seid überzeugt, daß Ihr für Eure Kritik immer ein williges Ohr finden werdet.

Gleichwohl patriotisch, verbanden die Vereinsgranden mit dem familiären Selbstverständnis der „Borussenfamilie“ und der freundschaftlichen Verbundenheit untereinander eine klare Absage an streng nationalistische Töne im Verein:

Auch soll ein Sportsverein vernünftigerweise nicht fanatisch national geführt werden. Internationale Beziehungen, mit Würde gepflegt, vermitteln die verschiedenen Kulturen, fördern das gegenseitige Völkerverstehen und damit den notwendigen Völkerfrieden. An der Spitze der Völker im Sport zu marschieren, ist eine größere Ehre als nur erster einer Nation zu sein, denn die Ehre der Nation ist dann vervielfacht.

Betont wurde vielmehr immer wieder die erzieherische Verantwortung, die man für die Vereinsjugendlichen übernommen habe. Sie sollten „Kampfgeist“ und „Ehrgeiz“ haben, aber auch „Ritterlichkeit“ und „Fairness“ lernen. Es galten die Ideale des Liberalismus, allen voran Toleranz in Form politischer Neutralität im Verein und der Verpflichtung zum Parlamentarismus: Den Jugendlichen sei Gelegenheit zu geben, sich im „parlamentarischen Sprachgebrauch zu üben“, hieß es in den Club-Nachrichten – republikanische Überzeugungen gehörten, zumal im Fußball, während der Weimarer Republik nicht eben zu den meist verbreiteten Weltanschauungen.

Einerseits also die Untertanenmentalität von der Unterordnung „unter den Willen eines Einzelnen, des Führers“, und andererseits auf der Funktionärsebene ein Führungsstil, der sich väterlich gibt, der sich freundschaftliche Verbundenheit und Liberalität auf die Fahnen schreibt. In diesen Unterschieden treten die Probleme des sozialen Aufsteigers in ein bürgerlich-liberales Milieu zutage, das sich durchaus elitär abschloss. 1927 hatte Tennis Borussia nur 403 Mitglieder, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits zehntausende Berliner die Spitzenspiele der Veilchen sehen wollten. Neuaufnahmen in den Club wurden erst nach Empfehlung der Mitgliedschaft ausgesprochen, das jedenfalls legt die Rubrik „Mitgliederbewegung“ der Club-Nachrichten nahe, die zeitweise mit den Namen der Aspiranten vermerkt: „empfohlen durch…“ Und Paragraph acht des Satzungsentwurfs von 1925 legt fest, dass das Aufnahmegesuch „von mindestens zwei ordentlichen Mitgliedern befürwortet“ werden muss.

Zugleich war die Clubleitung bemüht, den Verein nach modernen kaufmännischen Richtlinien zu führen. Seit 1925 gab es mit dem renommierten Sportjournalisten Carl Koppehel einen Geschäftsführer – auch das ein Novum in der Sportgeschichte. Die Entscheidung war vereinsintern heftig umstritten, denn ein professioneller Geschäftsführer widerspräche dem Amateurgedanken, argumentierten die Kritiker, allen voran Ulrich Rüdiger. Erst als sich Alfred Lesser und Ernst Salinger bereit erklärten, Koppehels Gehalt aus ihrer Privatschatulle zu tragen, stimmte die Mitgliedschaft zu. Daneben gab es im Vorstand einen „Obmann für Presse und Propaganda“, der – moderner formuliert – zuständig für Public Relations war. Zeitweise hatte diese Funktion Alfred Lesser inne: Vereinsgründer, Vizekonsul von Honduras, erfolgreicher Kaufmann und einer der größten Gönner des Vereins. So war es denn auch Lesser, der es in seiner Funktion als Pressewart des Berliner Boxverbandes (BBV) Anfang der 30er Jahre durchsetzte, dass „allabendlich die Boxresultate durch Rundfunk veröffentlicht werden“, wodurch das Publikumsinteresse deutlich gesteigert werden konnte. Wie Lesser machten sich zahlreiche Tennis Borussen bereits seit 1905 als Verbandsfunktionäre um den Berliner Sport verdient: Etwa Theodor Sachs, Kurt Kamke oder auch Ulrich Rüdiger.

Mühelos und selbstverständlich bewegten sich Tennis Borussen auch in der künstlerischen und medialen High Society Berlins. TeBe-Funktionär Leopold Leiserowitsch war ein stadtbekannter Konzertmeister. Er richtete das musikalische Rahmenprogramm für die Feier anlässlich des ersten Besuchs einer französischen Mannschaft nach dem ersten Weltkrieg aus. Und in der „Berliner Oase“, einer Fußballvereinigung, in der sich das Berliner Who is Who aus Kultur und Medien zum Spiel einstellte, liefen neben Dichter Joachim Ringelnatz oder Schauspieler Hans Albers auch Tennis Borussen wie Leopolds jüngerer Bruder Simon oder Dr. Jaques Karp auf. Simon „Sim“ Leiserowitsch selbst war Berlins erste echte Fußballlegende, über dessen filigrane Spieltechnik sogar der Herthaner Hanne ins Schwärmen geriet.

Mit diesem Milieu hatte der Arbeitersohn Sepp Herberger erhebliche Probleme, wie sein Biograph berichtet. Das glich er durch „schroffe Zurückhaltung“, „anmaßend klingende Belehrungen“ und sportliche Höchstleistungen aus, aber auch durch Ehrgeiz, Gefallsucht, Lobhudelei und Anbiederung: „Tatsächlich hatte Sepp Herberger keine Schwierigkeit, Anschluss zu finden an die Show-Elite des Sports und der Kultur.“ Als Amateursportler und Student musste er den Spagat zwischen High Society und kargem Lebenswandel bestehen. „Nicht wahr Ev“, pflegte er zu seiner Frau Eva in der Rückschau auf die Berliner Zeit zu sagen, „wir haben uns durchgebissen“.

Gerade dieses Milieu ermöglichte ihm und seinem Freund und Mentor Otto Nerz, was anderswo kaum denkbar gewesen wäre: Das Experimentieren mit dem britischen Spielsystem bei völliger Rückendeckung durch den Verein. Denn die britische Spielweise stieß in ihrer defensiven Ausrichtung beim torverwöhnten Berliner Publikum und in der Fachpresse auf wenig Gegenliebe. Der Club gewährte Nerz regelmäßig Studienreisen nach Großbritannien, von denen der Cheftrainer euphorisch in der Vereinszeitschrift berichtete. So auch vor dem richtungweisenden Spiel gegen den Club Francais am 19. Oktober , das den Auftakt zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen der Weimarer Republik mit Frankreich markierte. Nerz kam erst am Spieltag aus London in an und begab sich unmittelbar nach seiner Ankunft mit der Mannschaft zur Buffalobahn, wo das Spiel ausgetragen wurde – die Veilchen gewannen die Begegnung 1:3.

Die Tennis Borussen wussten, wem sie den sportlichen Erfolg der Roaring Twenties zu verdanken hatten: Als Nerz in der Presse für seine Tätigkeit als Trainer der Reichsauswahl angegriffen wurde, machte sich sein ehemaliger Verein für ihn stark. Nerz habe dem Verein erst „System“ gebracht, und viele Spieler der ersten Mannschaft verdankten seinen „formenden Händen“ ihren Aufstieg. Herberger führte die sportlichen Geschicke in diesem Sinne – und war außerordentlich erfolgreich: Zwischen 1927 und 1931 gelang es vier Mal in Folge, die Abteilungsmeisterschaft zu erringen, Ende der Saison 1927/28 waren die Veilchen nach 19 Spielen ungeschlagen und stellten damit den Verbandsrekord der Viktoria aus dem Jahre 1904 ein und hielten zugleich den Deutschen Rekord. 1932 folgte die Krönung dieser Siegesserie mit dem Erfolg in der Berliner Meisterschaft, auf den man so lange Jahre warten musste.

Im Frühjahr 1932 wurde Herberger Verbandstrainer des Westdeutschen Fußballverbandes und verließ auf dem Höhepunkt seines Erfolgs mit den Veilchen Berlin in Richtung Duisburg.

 

*zitiert nach: J. Leinemann: Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende. Berlin 1997

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