Eine Hexenküche des modernen Fußball

Tennis Borussia und ihre erste Trainer Richard Girulatis, Otto Nerz und Sepp Herberger. Vortrag gehalten am 21.10.2010 gehalten im Rahmen einer We-Save-TeBe-Veranstaltung

L[iebe] Tennis-Borussen, schrieb Otto Nerz am 26. April 1924 aus Birmingham an seinen Berliner Verein, 91.000 beim Pokalendspiel der Bolton Wanderers gegen Manchester City, [d]arunter der König und ich! Das letztere ist wesentlich, sonst könnte ich nichts darüber schreiben. Nerz galt als Pedant und Grantler, und wie um diesen Ruf zu unterstreichen, ließ er seine Tennis-Borussen wissen, Donnerstag und Freitag war Arbeit im Gewand der Freude. Training am Strand, Golf, Tennis, Billard. Lauter Dinge, die ich gar nicht leiden mag. Das Schönste sei noch das Bad am Strand von Blackpool gewesen.

Es wäre zu leicht, über den Mann mit dem eigenwilligen Humor zu spotten, denn  es waren solche Eigenschaften, die ihn als kühlen Analytiker zu einem der wichtigsten Modernisierer des Fußballs in Deutschland machten. Nerz, seit April 1924 Cheftrainer der Tennis Borussia, wurde vom Verein regelmäßig für seine Studienaufenthalte in Großbritannien freigestellt, und die Veilchen erprobten die Erkenntnisse, die er vom britischen Profifußball nach Berlin brachte, sogleich in der Praxis. Auch zu dem umstrittenen Spiel gegen den Club Français reiste er erst am Austragungstag aus London nach an.  Es war die erste Begegnung einer deutschen Mannschaft mit einer französischen, sechs Jahre nach Kriegsende. Die Begegnung mit dem „Erzfeind“ war im Vorfeld heftig angefeindet worden. Tennis könne das „Deutschtum“ und die „deutsche Art“ nicht würdig vertreten, gifteten nationalistische Scharfmacher.Unbeeindruckt von der Hetzkampagne stellte Otto Nerz mit seinen frischen Eindrücken von der Englandreise seine Veilchen hervorragend ein. In einem begeisternden Spiel gewannen die Lila-Weißen in Paris 3:1. Am Abend nach dem Spiel versicherte der Vertreter des französischen Ministeriums für Volkswohlfahrt, , er werde sich für die Freigabe der Sportplätze im Ruhrgebiet einsetzen.

Was aber war so „undeutsch“ an dem von Nerz bevorzugten Spiel? Seine Bewunderung für den englischen Fußball war beinahe grenzenlos. Nur die besten Amateure des ganzen Landes, schwärmte Nerz, als sich der elitäre für den zweiten Osterfeiertrag 1925 angesagt hatte, beste sowohl im sportlichen wie im gesellschaftlichen Sinne. Die Zahl seiner Mitglieder war auf 50 begrenzt, und es gibt für den englischen Amateur keine größere Ehre, als von den Corinthians zum Mitglied gewählt zu werden. Doch in England wurde Profifußball gespielt, so dass die aktiven Spieler sowohl aus Amateur- oder Professionalkubs einberufen wurden, schließlich wollte man auf der Höhe der Zeit spielen. Alle Aktiven des Corinthians FC einte jedoch, dass nur die allerbesten Leute gewählt werden, wie Nerz nicht müde wurde festzuhalten.

Solche Bewunderung für den englischen Fußball fällt in eine Zeit, als man sich noch gut daran erinnern konnte, dass der Fußballsport während seiner Gründerjahre in Deutschland als „englische Krankheit“ geschmäht worden war. Auch hielt der Sportbetrieb der Weimarer Republik (mit wenigen Ausnahmen, insbesondere dem Boxen) fest am Ideal vom Amateursportler. Bezahlter Sport, das war in den Tagen, als der Berliner Tennis-Club Borussia seinen Spielern nach jedem Match zwei Eier im Glas und ein Butterbrot zukommen ließ, in der Vorstellung der allermeisten Sportfreunde eine seelen- und emotionslose Veranstaltung. Undenkbar. [W]ir spielen um schön und richtig zu spielen, die Engländer spielen nur mit Rücksicht auf den Sieg, in solchen Äußerungen kulminierte die Kritik am englischen Sportbetrieb, wenn sie sich sachlich äußerte. Über das schleichende Gift des verkappten Berufsspielertums hingegen, von dem der Fußballkörperzu befreien sei, klagte der DFB schon 1918/19.Verkappte Berufsspieler, das waren Leute wie Sepp Herberger, der bereits im November 1921 vom Süddeutschen Fußballverband zum Berufsspieler erklärt und vom Spielbetrieb ausgeschlossen worden war – die Sperre wurde freilich auf seinen Einspruch hin bereits im März 1922 wieder aufgehoben. Im Oktober 1926 lotste Herbergers Mentor Otto Nerz den Spielmacher des VfR Mannheim zu den Berliner Veilchen. Herberger, um den auch die Hertha gebuhlt hatte, erhielt eine hoch dotierte Arbeitsstelle im Bankhaus Fürstenberg & Klocke der beiden Tennis Borussen Georg Michaelis und Max Berglas. Zuvor schon hatte Herberger in Mannheim als „Geldzähler“ in einer Bank gearbeitet – eine Tätigkeit, die durch die Inflation notwendig geworden war. Es ist wohl dennoch nicht sehr wahrscheinlich, dass Herberger ohne Ausbildung sich die Summe von 350 Mark auch tatsächlich mit Arbeiten für das Bankhaus verdiente, dessen Inhaber zu unterschiedlichen Zeiten Vorstandsmitglieder von TeBe waren. Derartige Konstruktionen sind vermutlich auch anderen Spielern zugutegekommen. Otto Martwig beispielsweise, der 1924 über Union Oberschönweide von Schwaben Augsburg seinen Weg zu TeBe fand, kurz nach seinem Entritt wieder austrat und wiederum wenige Wochen danach bei TeBe seine Mitgliedschaft erklärte. Dieses Hin und Her eines Mannes, der auf dem Spielfeld äußerst erfolgreich auftrat und der insgesamt vier Mal das Trikot der Reichsauswahl und 28 Mal die Berliner Farben übergestreift hatte, zeigt vielleicht, wie schwierig die Entscheidung zum überregionalen Vereinswechsel damals war. Alles hing davon ab, ob es gelang, einen Arbeitsplatz in der Heimat des neuen Vereins zu finden, solange die Spieler nicht angemessen entlohnt werden durften.

1925 untersagte der DFB gar Spiele gegen ausländische Profimannschaften, das Verbot wurde erst 1929 wieder gelockert, erlaubt seien nunmehr Spiele gegen „Berufsspielermannschaften“ zu Lehrzwecken. Doch Tennis Borussia traf bereits am 21. Mai 1927 wieder auf eine englische Profimannschaft. Nach dem Spiel gegen den Burnley FC jubelte Otto Nerz: [N]ach jahrelanger Abgeschiedenheit wieder einmal die hohe Schule des Fußball. Die Amateure der Tennis Borussia verloren gegen die englischen Profis 0:4. In seinem Resümee für die Clubnachrichten brachte Nerz seine ganze Philosophie auf den Punkt:

…ihr Laufen, ihre Führung des Balles, ihre Art, den Gegner zu umspielen, alles sieht lächerlich einfach und mühelos aus, weil sie ihren Körper und ihre Materie restlos beherrschen. … In Technik und Taktik könnte Burnley uns Lehrmeister sein. Was die Elf vor allen Dingen auszeichnet, ist, dass alle Spieler den Ball auf kleinstem Raume noch bewegen können. Wie erstaunlich war es, wenn die Engländer, hart an der Seitenlinie stehend, von allen Seiten bedrängt, noch den Ball an den Unsrigen vorbeispielten. Selten ließen sie den Ball weit vom Fuß. Ob auf kurze Distanz oder weiteren Strecken, ihr Zuspiel war außerordentlich genau und erreichte fast immer den eigenen Mann, der allerdings sich stets auch so gestellt hatte, dass er frei vom Gegner war. War es wirklich nötig, einen Ball zu erlaufen, zeichnete sie alle eine große Schnelligkeit aus. … Die auch bei uns theoretisch festgelegte Stellung des Sturmes in Form eines lateinischen W, war bei ihnen deutlich ausgeprägt, nur dass die innere Spitze, also der Mittelstürmer, weit vorgetrieben war. Er stand stets vorn zwischen den Verteidigern, hart an der Abseitsgrenze, ohne jedoch ein einziges Mal in Abseitsstellung zu geraten…

Fußballerisch verabschiedete sich Nerz vom sog. „“, das damals alle erfolgreichen Mannschaften spielten: Der Nürnberger Club, die Wiener Hakoah und später auch der Schalker „Kreisel“. „Drei-innen“, das war ein Kurzpasssystem, das von zwei Außen- und drei Innenstürmern gespielt wurde. Standfußball, der mit der individuellen Klasse seiner Akteure steht und fällt. Impotente Spielerei, schimpfte Nerz über diese Spielweise. Ballverliebt, würde man heute vielleicht sagen. Stattdessen also ließ Nerz über die Außenflügel spielen, wie er es bei den englischen Vereinen gelernt hatte. Statt passgenauem Zuspiel der in den freien Raum, statt Kabinettstückchen am Ball das Laufen ohne Ball. Auch Manndeckung war ein unbekanntes Wort in der Weimarer Republik, bis Nerz bei Tennis Borussia mit ihr experimentierte. Die Spielweise war kräftezehrend, und Nerz war verrufen als Konditionsbolzer, der ganze Trainingseinheiten ohne Spielgerät verbringen ließ. Wenn es gut lief, bejubelte die Presse die hochkultivierte Art der fliegenden Kombinationen, wie es die FuWo nach einem Spiel gegen Wedding 1927 schrieb, das bereits unter der Verantwortung des ehrenamtlichen Spielertrainers Sepp Herberger geführt wurde:

Dieses pausenlose präzise Feingefühl des Weiterlenkens des Balls wie es Herberger, wie es auch Handschuhmacher, und Hartwig können, kann zur Spezialkampfmethode der Tennis Borussia, zu einer hochmodernen, ausgebaut werden.

Lief es aber schlecht, dann stand TeBe für sein seelenloses und kühles Spiel am Pranger. Zweckfußball, schimpfte einmal der Spieler Herberger selbst über seinen Trainer Nerz. Als die Reichsauswahl 1931 gegen Frankreich unterlag, fühlte sich der Berliner Tennis-Club „Borussia“ berufen, für den Reichstrainer Nerz in die Bresche zu springen. Zu deutlich glichen die Angriffe der Presse jenen, die die Veilchen über Jahre hinweg selbst haben über sich ergehen lassen, wie es Dr. Jacques Karp sehr deutlich zu Papier brachte:

Mit einiger Beschämung laß ich in einer Tages-Zeitung nach dem verlorenen Länderspiel gegen Frankreich recht häßliche Worte gegen den Reichtrainer, Otto Nerz. Wir haben im Club an uns selbst erfahren, wie Nerz als erster System in unsere Mannschaft gebracht hat, wie er aufgebaut hat und viele unserer ersten Mannschaft danken ihren Aufstieg wirklich zum großen Teil den formenden Händen dieses Mannes. […] Es ist ja nicht angenehm, Gegner in der Presse zu haben; aber man muß ihnen wenigstens zum Ausdruck geben, daß man ihre Ansichten doch recht einseitig findet, selbst auf die Gefahr hin, sie könnten übelnehmen. So geht es mir auch mit Ihnen, mein lieber Oasen-Bruder Werner; ich unterstelle gar nicht, daß Sie gegen T.-B. eingestellt sind, – ich wüßte nicht warum – sollten wir Ihnen einmal Böses getan haben, traue ich Ihnen genug Menschentum zu, das auch einmal zu vergessen; aber es macht doch auf die Dauer einen recht merkwürdigen, um nicht zu sagen schlechten Eindruck auf den Leser, das Negative immer besonders liebevoll unterstrichen zu finden, und das Positive stets nur diskret übergangen zu sehen, warum das?

Nerz hatte Anfang Januar 1927 die Veilchen verlassen, um als Reichstrainer die Nationalmannschaft zu betreuen. Hier führte er bei der Weltmeisterschaft 1934 das englische WM-System ein, das 3, 2, 2, 3, gespielt wurde. Nach seinem Weggang übernahm Herberger von seinem Freund, Mentor und Dozenten an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen die Geschäfte als ehrenamtlicher Spielertrainer für rund anderthalb Jahre. Herberger, der als Spieler selbst im Ruf stand, ein ballverliebter Dribbelkünstler zu sein, führte die Arbeit im Sinne seines Vorgängers fort; wer unter beiden Trainern gespielt hatte, betonte allenfalls, dass Herberger mehr Verständnis für Spielanlage und die praktischen Belange der Spieler hatte.

Seit seinem Umzug nach Berlin studierte Herberger an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen, u. a. bei dem Dozenten Otto Nerz. Ihn für die Belange seines Studiums freizustellen und nach Kräften zu unterstützen, war einer der Gründe, warum Herberger sich für Tennis Borussia und gegen Hertha BSC entschieden hatte. Praxis als Trainer sammelte der Mannheimer übrigens ehrenamtlich bei Babelsberg 03. Im Herbst schloss Herberger sein Studium als Jahrgangsbester ab. Er beendete seine Laufbahn als aktiver Spieler, und begann die des hauptamtlichen Trainers im Januar 1931 bei den Lila-weißen. Die Club-Nachrichten kommentierten:

Wir gratulieren herzlich zu diesem schönen Erfolg des Ausnahme-Studenten. Vor kurzem nun – denk mal! – beschließt der Senat der Hochschule, ihm die zu verleihen. Sie, von dem Rektor der Hochschule, Geheimrat Prof. Bier, gestiftet, wird für das beste Examen im Semester verliehen! Wie? Das ist eine Ehrung, auf die nicht nur der Seppl, auf die auch wir Borussen stolz sein dürfen. Nicht so wie ein Borusse, der nach flüchtigem meinte, er habe noch gar nicht gewusst, dass der Seppl ein so großer Biertrinker sei (ob er es denn heimlich tue?) – sondern so, dass einer der Unseren ein so tüchtiger Kerl ist und auch so, dass wir wieder einmal einen Beweis haben dafür, dass auch wir Fußballer bessere Menschen sein können…

Die war zunächst eine private Bildungseinrichtung. 1920 vom DFB gegründet, war es ihre vornehmste Aufgabe, Trainer nach wissenschaftlichen Methoden auszubilden. Profitieren sollte von der Verwissenschaftlichung und der Ausbildung vor allem die Nationalmannschaft. Ihr erster Dozent war ein echter Fußballpionier. Wenig weiß man über Richard Girulatis. 1912 hatte er das Traineramt bei Tennis Borussia inne. Vorher galten Trainer in Deutschland als englisches Phänomen, als etwas, an das man sich nicht herantraute und das wohl auch abzulehnen sei. Girulatis, dessen Heimatverein Union 92 war, emigrierte 1903 in die USA. Dort lernte er an den Universitäten den Sport von seiner akademischen Seite kennen. 1908 kehrte er nach Berlin zurück. 1916 trainierte er die deutsche Olympiamannschaft – und war also auch in diesem Sinne ein Vorgänger von Otto Nerz –, 1919 verfasste er das erste brauchbare Fußballlehrbuch mit dem Titel „Fußball. Theorie, Technik, Taktik“ (Berlin 1919), das wohl den Ausschlag gegeben hatte, weshalb er als Dozent auf die Deutsche Hochschule für Leibesübungen berufen wurde. In der der Tennis Borussia anlässlich ihres 50jährigen Bestehens schreibt Girulatis über seine Zeit bei den Veilchen – und mit diesem längeren Zitat möchte ich Euch entlassen:

Eine Persönlichkeit war ich bestimmt noch nicht, als ich so um 1912/13 die Betreuung der ersten Mannschaft von Tennis-Borussia übernahm. Bis dahin hatte sich kaum ein Deutscher an eine solche Aufgabe herangewagt; dieses Tätigkeitsfeld gehörte damals ausschließlich englischen Fußballexperten. Von diesen war wohl Townley der erfolgreichste. Ihm verdanken Karlsruhe, Fürth und andere, namentlich süddeutsche Vereine, ihren Aufstieg. Einem Berliner Verein war es bis dahin nicht möglich gewesen, einen solchen Mann zu verpflichten. Trotzdem gelang es schon 1905 der Berliner Union 92, den von Townsley trainierten Karlsruher Fußball-Verein im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft mit 2:0 in Köln zu schlagen und den Siegespreis zum ersten Male nach Berlin zu bringen, und zwar ganz ohne Hilfe eines Trainers, was den Erfolg um so wertvoller erscheinen läßt.

Um diese Zeit weilte ich in den USA, von wo ich nach fünf Jahren Aufenthalt 1908 zurückkehrte und mich Union 92, dessen Mitbegründer ich war, mit meinen sportlichen Erfahrungen zur Verfügung stellte. Ein geordnetes Training hatte zur Folge, daß im Jahre 1910 die Mannschaft wieder an der Spitze zu finden war.
So kam ich denn, mit einigen Erfolgen versehen, zu Tennis-Borussia. Gerade an ihrer Mannschaft hatte ich ein besonderes Interesse, und Ulrich Rüdiger, der sparsamste aller Vereinskassierer (aller Zeiten), ‚gestattete‘ mir die ehrenamtliche Betreuung der Mannschaft. Ja, ich mußte sogar Mitglied werden und pünktlich meinen Beitrag zahlen. Dafür wurde ich, ganz wie heute üblich, gelegentlich eines Mißerfolges von einem Hitzkopf auch noch beschimpft. Ich sage nochmals, ganz wie heute; denn: es ist zwar alles in Fluß, aber insofern hat sich im Fußball bis auf den heutigen Tag nichts geändert.