„…wie es seinem Blut und seiner Rasse entspricht“

Der spätere Reichstrainer Otto Nerz gilt als wichtigster Modernisierer des deutschsprachigen Fußball in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nerz erlernte das Trainerhandwerk bei Tennis Borussia von der Pieke auf, und es waren die Veilchen, bei denen er die wichtigsten Erkenntnisse der jungen Trainingswissenschaften in der Praxis erprobte. Aber die Geschichte des Fußball-Pioniers Nerz hat eine Schattenseite, über die außerhalb sporthistorischer Zirkel kaum gesprochen wird.

Von Erik Eggers

Haben sich die ehemaligen Weggefährten an die Lateiner gehalten? „De mortuis nihil nisi bene“, hieß ein Gesetz im Alten Rom, über die Toten nichts Schlechtes. Ist damit allein das Schweigen im Jahre 1952 zu erklären, als Mitglieder von Tennis Borussia dem berühmten Trainer Otto Nerz gedachten? Richard Girulatis schrieb in der Festschrift zum 50jährigen Jubiläum: „Otto Nerz ist tot, er starb den Hungertod in Sachsenhausen. So wurden wertvollste Kräfte in unsinnnigster Weise vernichtet, auch nach 1945.“ Nerz war 1949 gestorben. Das jüdische TeBe-Mitglied Georg Michaelis hatte 1952 den ehemaligen Reichstrainer in Schutz genommen; Nerz habe, ließ Michaelis wissen, auch nach der „Machtergreifung“ im Jahr 1933 die Freundschaft zu ihm aufrechterhalten. „Da er mehrere Jahre hindurch in unserem Club mit großem Erfolg als Trainer verbunden war, fühlen wir uns ihm besonders verbunden und verpflichtet“, hieß es. Andererseits hatte der spätere Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, während seiner Festansprache zum 50jährigen Jubiläum der Veilchen unmissverständlich festgehalten, „In unseren Reihen hat es zu keinem Zeitpunkt – und es hat erregende Perioden in der letzten Vergangenheit gegeben – hat es niemals politischen Fanatismus und niemals irgendeinen Klassen- und Rassenhass gegeben. In der Geschichte von Tennis-Borussia stehen jüdische Kameraden – wie Alfred Lesser und andere –, die wir aus Dankbarkeit niemals vergessen werden!“ Im Auditorium saßen einige, die den Nazi-Terror überlebt hatten. So der Journalist Gregoire E. Zand, der in der 1920er Jahren zur Aufbaugeneration der FußballWoche gehört hatte. In einer erschütternden Rede, die in der Festschrift „Von der anderen Seite“ übertitelt ist, berichtete er aus der Perspektive jener, die vor dem Nazi-Terror hatten fliehen müssen. Er selbst hatte überlebt und fliehen können, weil er 1937 vor dem Moabiter Sondergericht – das Todesurteil war ihm vor diesem berüchtigten Tribunal sicher – auf einen Richter traf, der als Mitglied des BFC Preußen Zands Wirken bei der FuWo schätzte. „1941“, erzählte Zand der Festgesellschaft von 1952, „lief mir auf der Promenade von Nizza plötzlich ein Tennis-Borusse in die Arme. Er war aus Deutschland verjagt worden nach einem Leben voll Arbeit und Fleiß. Aber alle Bitterkeit war vergessen, wenn wir von Tennis-Borussia sprachen – und wir sprachen nicht wenig davon…. bis uns die Abenteuer jener Zeit trennten. (Er sitzt heute mit seiner Frau inmitten der Festgesellschaft!)“

So bleibt eine Leerstelle. Denn jene Artikelserie, die im Juni 1943 im Berliner 12 Uhr Blatt von Nerz publiziert worden war, wurde nicht reflektiert. Jedenfalls nicht schriftlich. Diesen Schandfleck deutscher Sportgeschichte, der in drei Texten alle verfügbaren antisemitischen Stereotypen der NS-Hetzpropaganda nutzte, um eine angeblich jüdische Weltherrschaft im kommerziellen Sportbetrieb zu konstruieren, nahmen die ehemaligen Weggefährten stumm zur Kenntnis. Ein verstörendes Schweigen über einen Text, der bei den ehemaligen Entscheidern von Tennis Borussia bekannt gewesen sein dürfte.

„Der Jude”, hatte Nerz damals gegeifert, übe zersetzenden Einfluss auf das Vereinsleben aus, agiere im Sport als Schieber „hinter der Kulisse”, habe immer alles daran gesetzt, auch die Sportpresse zu dominieren. Selbst beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) habe er sich einschleichen wollen, der jüdische Kandidat für eine 1927 anstehende Geschäftsführerwahl sei indes durchgefallen. Warum, glaubte Nerz noch exakt rekonstruieren zu können: „In der Bundesführung wehte kein judenfreundlicher Wind. Sie war judenfrei.” Eine andere Passage lautete: „Auch auf dem Gebiet des Sports konnte sich der Jude nur so betätigen, wie es seinem Blut und seiner Rasse entspricht. Nirgends sehen wir den Juden aufbauend. Überall nutzt er die Konjunktur aus, verdrängt die eigentlichen Pioniere und setzt sich an ihre Stelle. Genau wie im Wirtschaftsleben.“ Es sind Texte, die sich heute als geistige Vorbereitung und Legalisierung für die vollständige Vernichtung des jüdischen Sports lesen.

Und diese Texte haben selbstverständlich eine Diskussion über Nerz entfacht. Wurden diese Artikel, wie Karlheinz Schwarz-Pich ohne jegliche Quellenbasis behauptet, tatsächlich nicht von Nerz verfasst, sondern wurde nur der Name Nerz darüber gesetzt? Oder wollte Nerz mit diesen antisemitischen Tiraden, wie der Historiker Rolf Vogt fragt, seinen Bruder Friedrich beschützen, der mehrfach in Konflikt mit der Gestapo geraten war?

Geboren wurde Nerz am 21. Oktober 1892 in Hechingen, einer kleinen Stadt in der preußischen Enklave Hohenzollern. Er entstammte bescheidenen, einfachen Verhältnisse. Der Vater betrieb ein Seilergeschäft, später verkaufte er auch Bürsten und Schuhe, bis die Familie im Januar 1901 nach Mannheim umsiedelte. Dort lernte Nerz beim VfR Mannheim das Fußballspielen, aber seine Karriere als rechter Läufer blieb überschaubar. Das Realgymnasium verließ er mit dem „Einjährigen“, ging an das Lehrerseminar Ettlingen, das er 1910, 18 Jahre alt, als jüngster Volksschullehrer Badens abschloss. 1914 zog er als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg. Sein verehrter Bruder Robert fiel bald in Flandern, er selbst erlitt 1916 in Galizien einen Bauchdeckendurchschuss und wurde ein halbes Jahr später als Vizefeldwebel der Reserve aus dem Militär entlassen.

Kurz nach Kriegsende, 1919, trat Nerz in die SPD ein, und während er den VfR Mannheim coachte, wo ab 1921 auch ein gewisser Sepp Herberger spielte, bildete er sich an der Badischen Landesturnanstalt zum Turn- und Sportlehrer fort. 1922 siedelte Nerz um nach Berlin, um sich an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen (DHfL), der ersten Sportuniversität der Welt, einzuschreiben. Einer seiner Fußballdozenten dort war Richard Girulatis. Nerz war so lernwillig und auffassungsschnell, dass er noch während des Studiums als Dozent lehrte. Seine Diplomarbeit, die er 1925 vorlegte und die er seinem Bruder widmete, hieß „Fußball-Wintertraining“. In der Einleitung bekannte er sich als Anhänger der damals populären Luftbad-Bewegung; durch seine Studien an der DHfL und Universität, bekannte er, habe er seinen Gesichtskreis wesentlich erweitert. Seine Prüfung zum Diplom-Sportlehrer legte er allerdings erst 1929 ab.

Sein Geld verdiente Nerz weiterhin als Trainer. Zunächst coachte er TeBe, einen der elitärsten Klubs Berlins, in dem sich zahlreiche Prominente versammelten; hier dürfte auch der Kontakt zu Girulatis hilfreich gewesen sein. Und hier wurde auch der DFB, dessen Vorsitzender Felix Linnemann in Berlin wohnte, auf den wissenschaftlich geschulten Trainer aufmerksam. Der Dachverband verpflichtete ihn am 1. Juli 1926 als nebenamtlich tätigen „Bundes-Fußballlehrer“. Als sein erstes Länderspiel gilt die Partie am 31. Oktober 1926 in Amsterdam gegen Holland. 1926 – das war eine revolutionäre Zeit im internationalen Fußball, da 1925 die Abseitsregel verwässert worden war.

Die Methoden desjenigen, der die besten taktischen Antworten auf diese Regelreform wusste, Trainer Herbert Chapman von Arsenal London, studierte Nerz auf vielen Reisen nach Großbritannien, und er entwickelte sich bald zu einem Anhänger des WM-Systems, das Chapman als probates Mittel für die neue Abseitsregel entwickelt hatte: Dadurch, dass der Mittelläufer in die Abwehr zurückgezogen wurde und die Halbstürmer defensiver agierten, erfuhr die Verteidigung die nötige Stärkung. Der britische Profifußball stellte für Nerz überhaupt ein Dorado dieser Sportart dar. „Der harte, englische Fußball-Profi schwebte Otto Nerz als Modell für den deutschen Spitzenfußball vor“, schrieb 1974 Fritz Hack.

In dieser Zeit systematisierte Nerz den Fußball. Während er 1926 sich für ein Medizinstudium einschrieb, verfasste er Lehrbücher über die Aufgaben der verschiedenen Positionen. Mit dem Input, den er aus der jungen Sportwissenschaft und den Studien in England erfuhr, reformierte und modernisierte er kontinuierlich den deutschen Leistungsfußball. „Mit Nerz hielt erstmals eine geregelte Organisation Einzug im deutschen Spitzenfußball“, resümiert der Fußballhistoriker Hardy Grüne diese frühe Phase des Nerzschen Schaffens: „Trainingslager, Sichtungslehrgänge, methodische Konditionsarbeit auf der Grundlage fußballspezifischer Anforderungen, taktische Schulung, Einführung von gezielter Gymnastik für Fußballer und erste Ansätze für eine regelmäßige Betreuung der Spieler, bis hin zur Erarbeitung von Methoden für das Wintertraining für Fußballer in der Halle.“

Als „Reichstrainer“ wurde Nerz erstmals 1928 bezeichnet, als seine erste große Aufgabe anstand: das olympische Fußballturnier von Amsterdam. Nerz war damals keineswegs allein verantwortlich. Vielmehr musste er sich für die Nominierung der Spieler den Vorstellungen des DFB-Spielausschusses und auch des DFB-Präsidenten beugen. Nach der heftigen 1:4-Niederlage gegen Uruguay, den späteren Olympiasieger, hagelte es Kritik im deutschen Blätterwald. Nerz reagierte darauf mit Gelassenheit und Nüchternheit. Der deutsche Fußball verfüge zwar über technisch herausragende Spieler, analysierte er kühl im Kicker, aber sie seien – zu langsam. Eine Kritik an dem konditionellen und athletischen Zustand der Fußballer, die zwar offiziell als Amateure starteten, aber längst als Profis Geld verdienten.

Mit seiner Persönlichkeit eckte Nerz an. Er war hochintelligent, sprach fließend Englisch und Französisch und konnte sich auch auf Italienisch und Schwedisch verständigen. Doch durch seine schroffe Art und seine Vorliebe für die klassischen preußischen Tugenden Pünktlichkeit und Disziplin galt er bald als Feldherr. „Ich habe mich in einem Lehrgang bei ihm immer gefühlt wie in einer Kaserne“, hat später Nationalspieler Sigmund Haringer über den Kommisston bei Nerz gesagt. „Pünktlichkeit und Disziplin waren bei das Wichtigste, wer zu spät zum Essen kam, erhielt eine Abreibung“, erinnerte ich Reinhold Münzenberg. Jedwede Lässigkeit war ihm zuwider.

Nerz erlitt heftige Niederlagen. Die 0:5- und 0:6-Pleiten gegen das österreichische „Wunderteam“ 1931 zum Beispiel. Dafür zeichnete er nicht allein verantwortlich, da der DFB über Jahre den Vergleich mit Profis aus ideologischen Gründen abgelehnt hatte, aber natürlich zog er die Kritik wegen seines Führungsstils auf sich. Seinen Durchbruch als „Reichstrainer“ feierte er erst 1934, bei der WM in Italien, als er sein Team nach einem 3:2-Sieg im kleinen Finale gegen Österreich auf den dritten Platz führte. Diese Partie wird noch heute als „Sternstunde des deutschen Fußballs“ bejubelt, aber bei solchen Wertungen ist Vorsicht angebracht. Österreich spielte damals ohne sein gefürchtetes Innentrio, also auch ohne seinen Star Sindelar, auch der große Keeper Hiden hatte auf die WM verzichtet. „Das Wunder von Neapel“ war auch ein Wunder der NS-Sportpropaganda. Aber auch die erste Frucht der Umstellung auf das WM-System durch Nerz, das Nerz zuvor bei Tennis Borussia in der Praxis erprobt hatte.

Mit dem politischen Umsturz 1933 mutierte Nerz, der ehemalige Sozialdemokrat, zu einem überzeugten Anhänger des Nationalsozialismus. Da er als Ex-SPD-Mitglied nicht ohne weiteres in die NSDAP eintreten konnte, trat er 1933 der SA bei. Aus Briefen an die Nationalspieler geht seine Sympathie für das neue System hervor. In einer Bilanz des Jahres 1935 schrieb er, er wolle nicht politisieren. „Aber Ihr habt dazu beigetragen, dass Deutschlands Name, den eine lügenhafte Propaganda zu besudeln versuchte, mit Hochachtung genannt wurde. Eure Haltung war immer wahrhaft deutsch und nationalsozialistisch!“ In einem anderen Brief hieß es: „Seit Adolf Hitler Deutschland führt, geht es auch mit dem Fußball aufwärts.“

In dieser Zeit schloss er auch seine Medizinstudien ab. 1933 legte er die ärztliche Prüfung ab, seine Approbation erhielt er im Dezember 1934, und 1936 promovierte er an der Berliner Charité, bei dem berühmten Mediziner Sauerbruch. Das Thema seiner Dissertation lautet: „Unfallschäden des Kniegelenks unter Belastung durch Arbeit und Sport.“ In der Einleitung bedankte er sich für die „wertvollen Möglichkeiten“, die sich durch die Berufung von Prof. Karl Gebhardt nach Hohenlychen ergeben habe. „Es bildete sich bald eine enge Zusammenarbeit heraus, bei der ich naturgemäß vorwiegend für Anregungen und Förderung zu danken hatte. Dieser Arbeitsgemeinschaft entspringt auch die vorliegende Arbeit, die sich mit einem bestimmten Ausschnitt aus der Klinik der ‚Sportschäden‘ beschäftigt.“ In Hohenlychen ließen sich damals berühmte Athleten behandeln, in der angegliederten „Klinischen Abteilung des Reichssportführers“. Außerdem rühmte er die sportärztliche Versorgung in den englischen Fußballclubs, die berühmte Knie-Chirurgen bezahlten. Schon vor dem Tag der Promotion (1. Oktober 1936), exakt am 1. Juni 1936, schied Nerz als hauptamtlicher Mitarbeiter aus dem Fachamt für Fußball aus, weil er als Dozent für das Sportpraktische Institut der neugegründeten Reichsakademie für Leibesübungen verpflichtet wurde.

Diese Daten sind von Bedeutung für jene Epoche, die zu den umstrittensten der deutschen Fußballgeschichte zählt. Die Frage, wann genau Sepp Herberger seinem Ziehvater Otto Nerz als Reichstrainer folgte, nach dem Desaster der 0:2-Niederlage gegen Norwegen bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, wird in der Literatur in epischer Breite diskutiert. Auch Details wie die Frage, wer wirklich der Vater der legendären „Breslau-Elf“ war, die 1937 Dänemark mit 8:0 besiegte. Von einem „Machtkampf“ zwischen Nerz, der 1931 als Herbergers Trauzeuge fungierte, und seinem Nachfolger ist oft die Rede; und in der Tat hat sich Herberger in vielen Briefen an die Fußballführer darüber beklagt, dass er nicht umgehend als offizieller Nachfolger vorgestellt wurde. Doch die Chronologie dieser Wachablösung und die offiziellen Mitteilungen in den Zeitungen sprechen dafür, dass der Rückzug von Nerz vom Posten des Reichstrainers schon vor Olympia 1936 beschlossen war. „In Wirklichkeit ist die Dramaturgieskala ganz niedrig anzusetzen. Sie tendiert gegen Null“, schreibt der Historiker Rolf Vogt, und untermauert diese These durchaus schlüssig.

Das beginnt mit der Stelle, die Nerz am 1. Juni 1936 an der Reichsakademie für Leibesübungen annahm.  Deshalb sei, berichtete eine Tageszeitung der Deutschen Arbeitsfront kurz nach den Berliner Spielen, der Posten des Reichstrainers frei geworden. Nerz selbst erklärte im September 1936, als ein Länderspiel in Prag anstand, im 12 Uhr Blatt: „Fest steht, dass ich als angestellter Reichstrainer ausgeschieden bin, ich habe ja ein großes Arbeitsgebiet in Berlin jetzt. Aber von einem Wegtreten (…) ist noch keine Rede.“ Und tatsächlich übernahm Nerz dann im November 1936 das „Referat für Schulung, Betreuung und Aufstellung der Nationalmannschaft sowie für die fachtechnische Anweisung der Sportlehrer unter unmittelbarer Verantwortung dem Reichsfachamtsleiter gegenüber“, wie im Reichssportblatt vermeldet wurde. „Der Spielausschuss war Vergangenheit, das Führerprinzip Gegenwart“, erklärt Vogt. Nerz löste also Josef Glaser ab, den Spielausschussvorsitzenden – und war fortan für die Nominierung verantwortlich. Er wolle, schrieb Nerz seinem Zögling Herberger im Dezember 1936, ihn in seine Rolle als Reichstrainer hineinwachsen lassen, „mehr und mehr in den Hintergrund treten“ und sich „anderen Aufgaben widmen“.

Warum Nerz dann im Mai 1938 als Funktionär des Fachamtes zurücktrat und damit sich ganz aus dem Fußball zurückzog, darüber lässt sich trefflich spekulieren. Möglich, dass er die Einmischung von Gauleitern in den Fußball nicht goutierte, wie sie nach dem „Anschluss“ Österreichs nicht das erste Mal geschah. Möglich, dass er kein Interesse daran hatte, für die Verschränkung der wahrlich unterschiedlichen Fußballstile zuständig sein wollte, die in dieser Zeit mit der Integration der österreichischen Kicker anstand (und die bei der WM 1938 bekanntlich grandios scheiterte). Möglich auch, dass er sich einfach seinen medizinischen Studien an der Reichsakademie widmen wollte. „Mein Ausscheiden erfolgt ohne Groll. Ich habe Arbeit in Hülle und Fülle und kann in eigenem Stil ans Werk gehen“, schrieb er damals Herberger.

Die Literatur über die Reichsakademie ist dürftig; deshalb lassen sich kaum Aussagen über die Arbeit von Nerz an diesem Institut treffen. Allerdings versammelten sich hier viele überzeugte Nationalsozialisten – den Handball etwa verantwortete Otto Kaundinya, erster Reichstrainer im Handball. Auch über die sportorthopädischen Arbeiten in Hohenlychen ist wenig bekannt. Fest steht aber laut dem Sporthistoriker Volker Kluge, dass Nerz noch im Jahr 1938 eine außerordentliche Professor an der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin verliehen wurde – von Adolf Hitler.

Über das Wirken von Nerz im Zweiten Weltkrieg, der die Arbeit der Reichsakademie faktisch beendete, war bisher wenig bekannt. Nerz arbeitete als Arzt in der Wehrmacht. 1943 und 1944 war Nerz im Reserve-Lazarett 124 Berlin-Britz eingesetzt. Nach bisher unbekannten Archivalien, die aus dem Nachlass des Mediziners Arthur Mallwitz (Nerz‘ Chef im Reserve-Lazarett) stammen, schlug das Reichssportamt im Februar 1943 Nerz als neuen Dienststellenleiter der „Uebungsgemeinschaft Versehrtensport“ auf dem Reichssportfeld vor – vorbehaltlich allerdings der „Zustimmung von Dr. Gebhardt“, wie das Protokoll einer Besprechung im Reichsinnenministerium ausweist. Ebenfalls aus dem Protokoll geht hervor, dass Nerz zu dieser Zeit am Reichsportfeld wohnte. Die Wehrmacht hatte jedoch Einwände und schlug vor, Nerz lediglich mit der „Oberaufsicht“ zu betrauen und ihn weiter im Reservelazarett zu belassen.

Im Dezember 1944 war Nerz an der Konzeption einer täglichen Sportstunde für die verletzten Soldaten in den Lazaretten beteiligt, wie eine weitere Akte ausweist. Der tägliche Sport sei, hieß es hier, „ein Hilfsfaktor, der für die körperliche und seelische Wiederherstellung der Verwundeten und Kranken nicht entschieden genug eingesetzt werden kann“. Ein bizarres Dokument. Rückten die Russen doch immer näher. In den letzten Wochen des Krieges soll Nerz in einem Notlazarett im U-Bahnhof Zoo gewirkt haben.

Otto Nerz starb am 1949 im Speziallager Sachsenhausen. Foto: Schirner Bildarchiv.

Otto Nerz starb am 19. April 1949 im Speziallager Nr. 7 Sachsenhausen. Foto: Schirner Bildarchiv.

Nach Kriegsende wurde Nerz, der in den Rang eines SA-Obersturmbannführers aufgestiegen war, nicht sofort verhaftet. Die Briten nahmen ihn am Reichssportfeld fest und überstellten ihn den Russen, die ihn in ein Gefangenenlager nach Herzberge steckten. Im Herbst 1946 kam er ohne Prozess in ein Sonderlager des sowjetischen Geheimdienstes in Sachsenhausen. Ausweislich offizieller russischer Unterlagen starb Nerz am 19. April 1949 im „Speziallager Nr. 1“ in Sachsenhausen an einem Hirnödem.

Die neuen Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg belegen, dass Nerz sich auch 1943 noch im Dunstkreis des SS-Mediziners Gebhardt bewegte. Sieben Jahre lang arbeitete Nerz also mit einem Antisemiten zusammen. Bekanntlich war Gebhardt im Zweiten Weltkrieg einer der hochrangigsten Ärzte in der SS, 1943 war er oberster Kliniker beim Reichsarzt-SS, ab September 1943 fungierter er als Leibarzt Himmlers. Ein Jahr zuvor hatte Gebhardt Menschenversuche im KZ Ravensbrück unternommen; dafür wurde er nach dem Krieg zum Tode verurteilt und hingerichtet. Wir wissen zwar nicht, ob die Zusammenarbeit zwischen Gebhardt und Nerz im Juni 1943, als die antisemitische Artikelserie erschien, immer noch so eng war wie 1936. Da aber Nerz sich im Umfeld von Gebhardt bewegte, müssen wir doch davon ausgehen, dass er über den Genozid orientiert war. So gesehen, stimmte er mit seiner Artikelserie rhetorisch dem Massenmord zu.

Kurz nach der Publikation der Hetzartikel will Herberger seinen Vorgänger bei einer Begegnung auf dem Reichssportfeld gefragt haben, wie man „so etwas schreiben“ könne. Gemeint war: Wo doch Nerz nach dem Ersten Weltkrieg durch den jüdischen Mäzen Max Rath in Mannheim und Mitte der 1920er Jahre bei TeBe Berlin großzügig von jüdischen Gönnern unterstützt worden war. Nerz soll sinngemäß geantwortet haben: „Juden sind alle nette Menschen. Bis zu einer gewissen Grenze, dann alle Juden.“ Wochen danach habe Arno Breitmeyer, kommissarischer Reichssportführer, zu Herberger gesagt: „Das ist eines Direktors der Akademie unwürdig.“ So steht es jedenfalls im Nachlass Sepp Herbergers.

Hitler-Deutschland befand sich seit Anfang 1943 im „totalen Krieg“. Aber die Radikalisierung Nerz‘ bleibt angesichts der Biographie des ersten deutschen Reichstrainers irgendwie irreal; vergleichbare Zeugnisse anderer Trainer oder Sportler existieren nicht. Andererseits hat Nerz sich seit den 1920er Jahren in einem beruflichem Umfeld bewegt, „in dem die Theorie von der ‚Züchtung der Besten‘ auf breite Akzeptanz stieß und beinahe zur gängigen Lehre geworden wäre“, darauf hat der Historiker Nils Havemann hingewiesen. Nach allem, was uns an Quellen vorliegt, ist davon auszugehen, dass Nerz der Autor der antisemitischen Schmähschrift war. Und dass dieser Text auch sein judenfeindliches Denken zum Ausdruck brachte. Einer der bedeutendsten Reformer und Inspiratoren des deutschen Fußballs, der seine Ideen auch mithilfe jüdischer Unterstützung entwickelt hatte, war Antisemit.

Der Autor Erik Eggers (Wulfsmoor, Schleswig-Holstein) ist Historiker und Sportjournalist. In zahlreichen Beiträgen beschäftigte er sich mit der Geschichte des Fußballs.

 

Bücher von und mit Erik Eggers (Auswahl):

 

Erik Eggers: Fußball in der Weimarer Republik. Agon 2001.
Dietrich Schulze-Marmeling (Hrsg.): Davidstern und Lederball. Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball. Verlag Die Werkstatt 2003
Erik Eggers: Die Stimme von Bern. Das Leben von Herbert Zimmermann. Reporterlegende bei der WM 1954. Wißner Verlag 2004
Dietrich Schulze-Marmeling (Hrsg.): Strategen des Spiels. Die legendären Fußballtrainer. Verlag Die Werkstatt 2005
Erik Eggers: Böhme – Eine deutsch-deutsche Handballgeschichte. Verlag Die Werkstatt 2009