Feine Leute

© Unbekannt; Archiv: Monica Fleischmann

Die Enkelin von Simon Leiserowitsch, Naomi Leiser, und ihr Mann Van Wallach am 18.9.14 zu Besuch bei den Berliner Veilchen

Simon pflegte „feine Leute“ ins Netz der Gegner zu schicken, stramme Schüsse. Sim-Sim-Simsalabim war einer von diesen magischen Fußballern, den alle lieben. Nein, nicht einer – er war der erste: Der erste echte Stürmerstar der Berliner, Berlins erster Fußballdarling in einer Zeit, als Fußball sich anschickte, von der „englischen Krankheit“ zum Massenphänomen zu werden. Jahrzehnte später beichtete eine andere Legende des Berliner Fußballs, der Herthaner Hanne Sobek, wie er als Steppke über die Zäune zur Tennis Borussia schmulte, nur um ihn zu sehen: „Nicht nur sein spielerisches Können, auch seine moralischen Qualitäten haben mir damals sehr imponiert. Bis auf den heutigen Tag ist ‚Sim‘ mein leuchtendes Vorbild geblieben.“ Und Veilchen-Urgestein Otto Wiese sekundierte dem ehemaligen Gegner auf dem Grün: „Der eleganteste Alleskönner, den ich je gesehen habe.“

Geboren wurde Joseph Simon Leiserowitsch am 18.8.1891 in Dresden. Seine Eltern waren nur wenige Jahre zuvor vor Pogromen in Minsk, Weißrussland, geflohen. Jacob Movschovitsch Jeduah (später nannte er sich Julius) und Basse Leiserowitsch zogen Simon und seine vier Geschwister in recht ärmlichen Verhältnissen groß. Umso erstaunlicher ist die Karriere, die die Söhne des Tabakschneiders Julius, Simon und seine beiden Brüder Leopold und Fritz, machten.

Alle drei finden sich in den Jahren nach 1913 bei TeBe ein, als Simon seinen Einstand im lila-weißen Trikot gibt. Fritz ist wie sein älterer Bruder ein talentierter Fußballer und kickt viele Jahre für die Veilchen den Ball. Nur der älteste, Leopold, fällt aus dem Rahmen. Ihm fehlt jedes Fußballtalent. Dafür macht er sich rasch in ganz Berlin einen Namen als Dirigent. Kapellmeister Leiser und sein Bruder Sim sind von keinem Fest der Veilchen wegzudenken. Während Leopold musikalisch brilliert, etwa beim Festprogramm zum Spiel gegen den Club Français 1924 (ein Spiel das als erste deutsch-französische Begegnung nach dem Krieg Geschichte schrieb), erstaunt Simon auch in den Festsälen mit der Kunstfertigkeit seiner Beinarbeit: Er erfreut die Damenherzen mit exzellenter Technik im Krakowiak, einem polnischen Tanz, der in den Goldenen Zwanzigern die ganz heiße Sohle ist.

Simon trägt von 1913 bis 1923 das Trikot der Lila-Weißen, und streift 29mal das Jersey der Berliner Stadtauswahl über, ist Internationaler, wie man damals sagt. Fritz tritt zwischen 1922 und 1925 für die Veilchen den Ball, ist zweimal international.

Simon ist ein Filou und Lebemann. Davon erzählt auch seine Enkelin Naomi Leiser, die sich zusammen mit Mann Van Wallach auf Simons Spuren bei den Tennis Borussen befindet. Naomis Vater Eric (geboren im Oktober 1925 in Dresden) ist das zweite von drei Kindern – von drei Frauen. Ihre Großmutter Waleska Schulmann ist die Tochter eines Tabakfabrikanten, der die Beziehung zu Berlins Fußballcrack tief missbilligt. Simon arbeitet für ihn als Handelsvertreter. Gemeinsam mit seiner Mutter gelingt Sohn Erich noch 1941 die Flucht aus Nazi-Deutschland. Die Familie findet in New York Unterschlupf.

Naomi und Van besuchen die Stationen der Familiengeschichte. In dem kleinen Dresdner Vorort, in dem Erich und seine Mutter damals lebten, treffen sie 73 Jahre später auf einen alten Herren, der sich an Erich erinnert. An die Flucht, die der 15jähige mit seiner Geige antrat – es ist besonders die Geige, der Junge mit der Geige, an die sich der Herr erinnert. „Mein Vater liebte es damals, Geige zu spielen, aber Onkel Leopold riet ihm, ‚lass es bleiben, Erich, bei Dir ist Hopfen und Malz verloren‘.“ Naomi lacht. Sie lachen überhaupt viel auf ihrem Weg durch Wilmersdorf. In der Güntzelstraße 55, wo Leopold lebte, in der Nikolsburger Straße 1, wo Leopold ein Café betrieb, für das Simon als Geschäftsführer tätig war, und besonders beim Gruppenfoto mit Selbstauslöser im Treppenhaus der Badensche Straße 15 – Simons langjährigem Berliner Wohnsitz.

Simon emigriert 1933 nach Palästina. Hier arbeitet er als Trainer für Makkabi Tel Aviv und als Jugendbetreuer bei Hapoel Tel Aviv. Aber ihm fehlen die Sprachkenntnisse, und so muss er sich alsbald als Lagerarbeiter verdingen. Er stirbt am 11. November 1962 in Tel Aviv.

Waleska und Eric brechen nach der Scheidung 1927 den Kontakt zu Sim vollständig ab. „Mein Vater hat Simon nie mehr gesehen, nie wieder mit ihm gesprochen“, sagt Naomi. Aber Onkel Leopold. „Er hat zu Onkel Leopold immer ein besonderes Verhältnis gehabt.“ 18jährig kehrt Eric nach Deutschland zurück. Als Mitglied der 89th Infantry Division, für die er als Übersetzer tätig ist. Als Einheiten der 89ten Ohrdruf befreien, eilt er in das Konzentrationslager, angetrieben von Furcht – und von der Hoffnung, seine Familie zu finden. Nur wenigen Stunden nach den Kämpfen bieten das Lager und die überlebenden Insassen ein erschütterndes Bild, aber weder unter den Lebenden noch den Toten befinden sich Familienangehörige.*

Zu seiner Bestürzung muss der junge Mann dennoch feststellen, dass die größte Zahl seiner Familienangehörigen von den Nazis ermordet worden ist. Darunter Großvater Julius in Thersesienstadt, Simons Schwestern Bertha in Auschwitz und Luise in Theresienstadt. Auch Fritz Leiserowitsch, seine Frau Amalia und Töchterchen Baschewa wurden in Auschwitz ermordet. Es sind schwierige Briefe, die der 18jährige zu seiner Mutter nach New York schicken muss.

Leopold Leiserowitsch überlebt in einem Versteck in Berlin. Zu ihm hält Eric nach dem Krieg bis zu dessen Tod 1951 engen Kontakt, erzählt Tochter Naomi. Kurz zuvor war der Kapellmeister wieder seinen Veilchen beigetreten. „Die letzte Geste seines jüngst verstorbenen Bruders Leo wird für uns eine große Verpflichtung sein“, heißt es in dem Gedenktext auf die Brüder Leiserowitsch in den Club-Nachrichten von 1951.

Der Besuch des Mommsenstadion ist ein weiterer Höhepunkt auf ihrer Tour durch die Familiengeschichte, Teile des Grüns und der Blick auf den Funkturm liegen idyllisch im Abendlicht. „Ein wunderschöner Ort“, findet Naomi. „Hat da oben Onkel Leopold gesessen?“, fragt sie und deutet auf die Tribüne. Ja. „Ein toller Ort!“ Naomi und Van lachen einander an.

Dankesehr Naomi, dankeschön Van, es war ein aufregender Tag mit Euch! Ein besonderer Gruß geht an Eric Leiserowitsch!

* Siehe seinen Bericht: http://www.89infdivww2.org/ohrdruf/gram.htm; die erste umfangreiche Recherche zu Simon Leiserowitsch verdanken wir Werner Skrentny, nachzulesen in: Dietrich Schulze-Marmeling (Hg.): Davidstern und Lederball. Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball. Göttingen 2003. S. 46ff.

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